Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 389

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Jahre 1898[1] veranlaßt worden, das die gesamte russische Bauernschaft unter Belagerungszustand gestellt hat. Das Neue und Besondere des Jahres 1905 war nur, daß die chronische Rebellion der Bauernmasse zum ersten Male eine politische und revolutionäre Bedeutung erlangte, als Begleiterscheinung und Ergänzung einer zielklaren revolutionären Klassenaktion des städtischen Proletariats. Noch verkehrter aber ist womöglich die Auffassung des Genossen Kautsky von dem Hauptpunkt der Frage – von der Streik- und Massenstreikaktion des russischen Proletariats. Das Bild von den chaotischen „amorphen, primitiven Streiks“ der russischen Arbeiter, welche einfach vor Verzweiflung streikten, nur um überhaupt zu streiken, ohne Ziel und Plan, ohne Forderungen und „bestimmte Erfolge“, ist eine blühende Phantasie. Die russischen Streiks der revolutionären Periode, die eine sehr beträchtliche Erhöhung der Löhne, vor allem aber eine fast allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 10, vielfach auf 9 Stunden durchgesetzt haben, die in Petersburg mehrere Wochen hindurch in zähestem Kampfe den Achtstundentag aufrechtzuerhalten vermochten, die das Koalitionsrecht nicht nur der Arbeiter, sondern auch der Staatsangestellten bei den Eisenbahnen und Posten erkämpft und – solange die Konterrevolution nicht Oberhand gewonnen hatte – gegen alle Angriffe verteidigt haben, die es fertiggebracht haben, das Herrenrecht des Unternehmers zu brechen und in vielen größeren Unternehmungen Arbeiterausschüsse zur Regelung aller Arbeitsbedingungen zu schaffen, die sich die Abschaffung der Akkordarbeit, der Heimarbeit, der Nachtarbeit, der Fabrikstrafen, die strikte Durchführung der Sonntagsruhe zur Aufgabe stellten, diese Streiks, aus denen in kurzer Frist hoffnungsvolle Gewerkschaftsorganisationen fast in allen Gewerben aufkeimten, mit regstem Leben, mit strammer Leitung, Kassen, Statuten und einer ansehnlichen Gewerkschaftspresse, diese Streiks, aus denen eine so kühne Schöpfung wie der berühmte Petersburger Rat der Arbeiterdelegierten[2] geboren wurde zur einheitlichen Leitung der ganzen Bewegung in dem Riesenreich – diese russischen Streiks und Massenstreiks waren so wenig „amorph“ und „primitiv“, daß sie vielmehr an Kühnheit, Kraft, Klassensolidarität, Zähigkeit, materiellen Errungenschaften, fortschrittlichen Zielen und organisatorischen Erfolgen jeder „westeuropäischen“ Gewerkschaftsbewegung ruhig an die Seite gestellt werden dürfen. Freilich ist der

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[1] Das zaristische Innenministerium unter I. L. Goremykin hatte in einem Rundschreiben vom 17. Juli 1898 außerordentliche Maßnahmen zur Niederwerfung der Bauernerhebungen gefordert.

[2] Im Verlauf der russischen Revolution 1905 waren in mehreren Städten Rußlands Sowjets der Arbeiterdeputierten als revolutionäre Machtorgane der Arbeiterklasse entstanden, unter denen der Petersburger Sowjet besonders herausragte.