Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 362

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/362

„Ermattungsstrategie“ – mit Nachdruck auf die kommenden Reichstagswahlen hin. Von diesen Reichstagswahlen sei alles Heil zu erwarten. Sie bringen uns sicher einen überwältigenden Sieg, sie werden eine ganz neue Situation schaffen, sie geben uns eine breitere Basis zum Kampfe, sie können allein die Bedingungen herstellen, unter denen wir an eine „Niederwerfungsstrategie“, will sagen, einfach an eine Massenaktion denken können, sie werden „eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems“ bringen, sie geben uns jetzt schon in der Tasche „den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation“.[1] Mit einem Worte, der Himmel der kommenden Reichstagswahlen hängt für uns Sozialdemokraten so voller Geigen, daß wir sträflich leichtsinnig wären, angesichts eines so sicher „in der Tasche“ steckenden zukünftigen Sieges durch den Wahlzettel jetzt an einen Massenstreik zu denken.

Ich glaube nicht, daß es gut und angebracht ist, unseren künftigen Sieg bei den Reichstagswahlen in gar so leuchtenden Farben der Partei vorzumalen. Ich glaube vielmehr, daß es ratsamer wäre, uns auf die Reichstagswahlen wie immer mit allem Eifer und aller Energie, aber ohne übertriebene Erwartungen vorzubereiten. Wenn wir siegen und in welchem Maße wir siegen, werden wir ja erleben. Im voraus künftige Siege auskosten liegt so gar nicht im Wesen ernster revolutionärer Parteien, und ich bin ganz der Ansicht des Genossen Pannekoek, daß es besser wäre, solche phantastischen Perspektiven wie eine Verdoppelung unserer Stimmenzahl gar nicht erst zu erwähnen.

Aber vor allem: Was hat der künftige Reichstagswahlsieg mit der Frage des preußischen Wahlrechtskampfes heute zu tun? Genosse Kautsky meint, der Ausfall der Reichstagswahlen würde „eine ganz neue Situation“ schaffen. Worin jedoch diese neue Situation bestehen soll, ist zunächst unklar. Wenn wir nicht der phantastischen Hoffnung leben, daß wir plötzlich die Mehrheit der Mandate kriegen, wenn wir auf dem Boden der Wirklichkeit bleiben und selbst die Annahme von einem Wachstum unserer Fraktion auf etwa 125 Mann ins Auge fassen, so ist damit zunächst noch durchaus keine Umwälzung in den politischen Verhältnissen gegeben. Wir bleiben immer noch eine Minorität im Reichstag, der eine geschlossene reaktionäre Mehrheit entgegensteht, und daß unser Wahlsieg auf die preußische Reaktion so überwältigend wirken würde, daß sie uns plötzlich das gleiche Wahlrecht in Preußen aus freien Stücken konzediert, glaubt Genosse Kautsky wohl selbst nicht. Die ganz „neue Situation“ kann also nur in einem bestehen – im Staatsstreich, in der Kassierung des

Nächste Seite »



[1] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band. S. 77 f.