Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 365

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waren somit von vornherein im Zusammenhang mit der Losung eines eventuellen Massenstreiks gedacht, als Mittel, jenen Grad der „Entflammung der Massen“ zu erreichen, bei dem die schärfsten Mittel zur Anwendung kämen. Diese Demonstrationen fielen also bereits bedenklich aus dem Rahmen der „Ermattungsstrategie“ ins Gebiet der „Niederwerfungsstrategie“ heraus und leiteten zu dieser letzteren direkt hinüber.

Dies auch noch aus einem weiteren Grunde. Gehört es zur „Ermattungsstrategie“, daß man im Sinne des Engelsschen „Testaments“ vom Jahre 1895 jede Eventualität eines Zusammenstoßes mit der Militärmacht vermeidet, dann sind die Straßendemonstrationen allein und mehr noch als der Massenstreik bereits ein Bruch mit jener „Strategie“. Um so seltsamer erscheint nun, daß Genosse Kautsky seinerseits doch Demonstrationen befürwortet, ja er gibt zu, daß es notwendig sei, „vor allem die Straßendemonstration weiter zur Anwendung zu bringen, darin nicht zu erlahmen, sie im Gegenteil immer machtvoller zu gestalten’’[1]. Aber er will Demonstrationen ohne Steigerung, ohne Zuspitzung. Die Demonstrationen sollen „immer machtvoller“ sein, sie sollen aber nicht „um jeden Preis vorwärts“ gehen, sie sollen „nicht erlahmen“, sich aber nicht zuspitzen. Mit einem Worte, die Demonstrationen sollen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen.

Dies ist nun eine rein theoretische Auffassung der Demonstrationen, der Massenaktion überhaupt, die mit den wirklichen praktischen Bedingungen, mit der lebendigen Wirklichkeit nicht viel rechnet. Wenn wir große proletarische Massen auf die Straße zur Demonstration rufen; wenn wir ihnen erklären, die Situation sei eine derartige, daß einzig und allein durch ihre eigene Massenaktion, nicht durch parlamentarische Aktionen, der Zweck erreicht werden könne; wenn es uns gelingt, immer mehr die Massen zu entflammen; wenn die Straßendemonstrationen immer mächtiger und der Elan, die Kampfstimmung, immer größer, zugleich die unvermeidliche Verschärfung der Verhältnisse mit der Staatsmacht, die Möglichkeit der Zusammenstöße mit der Polizei und dem Militär immer größer werden, dann ersteht in den Massen von selbst die Frage: Was weiter? Die Demonstrationen bringen ja die Lösung nicht; sie sind der Anfang, nicht das Ende der Massenaktion; sie schaffen zugleich von selbst eine Zuspitzung der Lage. Und wenn die von uns entfachte Massenbewegung nach weiteren Direktiven, weiteren Aussichten ruft, so müssen wir ihr diese weiteren Aussichten zeigen, oder – wenn wir das aus diesem oder jenem Grunde nicht imstande sind – dann bricht auch die Demon‑

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[1] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 71.