Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 366

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strationsbewegung über kurz oder lang zusammen, sie muß zusammenbrechen.

Genosse Kautsky bestreitet dies. Er beruft sich auf Österreich: „Ober ein Dutzend Jahre hat dort der Wahlrechtskampf gedauert; schon 1894 wurde die Anwendung des Massenstreiks von den österreichischen Genossen erwogen, und doch vermochten sie bis 1905 ihre glänzende Massenbewegung ohne jene Steigerung und Zuspitzung im Gange zu halten .. . Nie sind die Genossen Österreichs in ihrem Wahlrechtskampf über Straßendemonstrationen hinausgegangen, und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“[1]

Genosse Kautsky irrt sich in bezug auf die Tatsachen in Österreich, wie er sich in bezug auf die Tatsachen des belgischen Wahlrechtskampfes geirrt hat.

Die Genossen in Österreich vermochten so wenig über ein Dutzend Jahre „ihre glänzende Massenbewegung“ im Gange zu halten, daß diese Massenbewegung vielmehr von 1897 bis 1905, also etwa acht Jahre lang, vollständig daniederlag. Darüber haben wir ein zuverlässiges Zeugnis – in der Gestalt sämtlicher Parteitage der österreichischen Genossen für diese Zeit. Seit 1898 bis 1905 bilden nämlich die Klagen über den Zusammenbruch der Massenaktion, über das Daniederliegen des Wahlrechtskampfes eine ständige, herrschende Note aller Parteitage. Schon auf dem Parteitag in Linz im Jahre 1898 bemängelt Genosse Winarsky, daß im Referat über die Parteitaktik „über das allgemeine Wahlrecht fast gar nichts gesprochen“ wurde, und erklärt, es müsse „wieder ein Sturm auf diese Bastion unternommen werden“[2]. Dieselben Forderungen und Klagen wurden laut auf dem Parteitag in Brünn 1899[3]. Auf dem Parteitag in Graz im Jahre 1900 konstatiert Emmerling: „Seit dem Jahre 1897 haben wir den Kampf für das allgemeine Wahlrecht vollständig eingestellt.“[4] Skaret meint, „daß es an uns sein wird, aus dem Parteitag heraus eine Wahlrechtsbewegung zu machen“[5]. Pölzer teilt mit: „Die Genossen sagen: Seitdem wir die fünfte Kurie[6] haben, ist es so, als ob die Generale hypnotisiert wären, es rührt sich nichts mehr. Ich meine also, es müssen überall Demonstrationsversammlungen für das allgemeine, gleiche und direkte

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[1] Ebenda, S. 70.

[2] Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Linz vom 29. Mai bis einschließlich 1. Juni 1898, Wien 1898, S. 62.

[3] Der Gesamtparteitag der Sozialdemokratie in Österreich vom 24. bis 29. September 1899 fand in Brünn statt.

[4] Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Socialdemokratie Oesterreichs, abgehalten zu Graz vom 2. bis einschließlich 6. September 1900, Wien 1900, S. 79.

[5] Ebenda, S. 74.

[6] Auf Grund der Streiks und Demonstrationen des österreichischen Proletariats für das allgemeine Wahlrecht sah sich die österreichische Regierung zu Zugeständnissen gezwungen. 1896 trat eine Wahlrechtsreform in Kraft, die auf einem von Ministerpräsidenten Eduard Taaffe 1893 vorgelegten Gesetzentwurf basierte. Zu den vier bestehenden Wählerklassen wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse (Kurie) eingeführt. Da für diese der Wahlzensus wegfiel, wurde ein größerer Kreis von Wählern erfaßt. Die Sozialdemokratie hatte erstmalig Gelegenheit, ihre Vertreter ins Parlament zu schicken. ([Fußnote im Original]: Auf Grund der Streiks und Demonstrationen des österreichischen Proletariats für das allgemeine Wahlrecht sah sich die österreichische Regierung zu Zugeständnissen gezwungen. 1896 trat eine Wahlrechtsreform in Kraft, die auf einem von Ministerpräsidenten Eduard Taaffe 1893 vorgelegten Gesetzentwurf basierte. Zu den vier bestehenden Wählerklassen wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse (Kurie) eingeführt. Da für diese der Wahlzensus wegfiel, wurde ein größerer Kreis von Wählern erfaßt. Die Sozialdemokratie hatte erstmalig Gelegenheit, ihre Vertreter ins Parlament zu schicken. (In der ersten Kurie wählen 5431 Großgrundbesitzer 85 Parlamentsabgeordnete, in der zweiten Kurie wählen 591 Kaufleute und Industrielle 21 Abgeordnete, in der dritten Kurie wählen 493804 Wähler aus der Stadtbevölkerung 118 Abgeordnete, in der vierten Kurie wählen 1 595 406 Wähler der Landbevölkerung 129 Abgeordnete, doch in der fünften Kurie der allgemeinen Stimmabgabe wählen 5 004 222 Wähler 72 Abgeordnete.

Auf diese Weise werden von 6022 Wählern aus dem reichen Adel und der Bourgeoisie zusammen (in den beiden ersten Kurien) 106 Abgeordnete gewählt, während mehr als 5 Millionen Wähler der fünften Kurie, deren Mehrheit Arbeiter sind, 72 Abgeordnete wählen! Die ersten vier Kurien zusammen, die 2 085 232 vermögende Wähler zählen, wählen 353 Abgeordnete, während 5 Millionen Wähler aus der fünften Kurie nur 72 wählen! Übrigens wird das österreichische Wahlgesetz, das der zaristischen Regierung sowohl in der ersten wie auch in der verbesserten Fassung des Bulyginschen Projekts als Vorbild diente, in Kürze eine Änderung erfahren. Unter dem Druck der stürmischen Arbeiterdemonstrationen in ganz Österreich und der Auswirkungen der russischen Revolution kündigte die Regierung schon im November 1905 die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts an.))