Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 275

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Rolle die Vertretung der Arbeiterbewegung aus Deutschland in den Reihen der Internationale spielen soll; ob sie ihr wie ehedem als die Führerin auf dem Wege des revolutionären Klassenkampfes vorausschreitet und den anderen Bruderparteien als Wegweiserin, als Muster dient oder aber durch ihre Zaghaftigkeit ins Hintertreffen gerät und von anderen geschoben wird. Die Verhandlungen des Internationalen Kongresses in Stuttgart[1] haben ja gezeigt und die Vorgänge auf der jüngsten Internationalen Konferenz der Gewerkschaftszentralen[2] haben es bestätigt, daß die deutsche Arbeiterschaft bei aller ihrer zahlenmäßigen Größe und ihren enormen organisatorischen Erfolgen nur dann die Führerin der Internationale ist und bleibt, wenn sie in der Zielklarheit, Prinzipienfestigkeit und Entschlossenheit der Taktik allen anderen vorausschreitet. Die Haltung der deutschen Delegation in der Maifeierfrage auf dem Kopenhagener Kongreß wird für die Bedeutung der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Gewerkschaften von außerordentlicher Wichtigkeit sein, und die Rücksicht auf diesen Umstand sollte bei den Verhandlungen des Leipziger Parteitages in erster Linie mitbestimmend wirken.

Schon die bisherige Sachlage mahnt dringend zur Klärung der Frage. Wir stehen vor der Tatsache, daß die mächtigste proletarische Organisation der Welt, nachdem sie die Stärke von 2/3 Millionen politisch Organisierter, 21/4 Millionen gewerkschaftlich Organisierter und 31/4 Millionen Wähler erreicht hat, beinahe daran ist, zu erklären, daß sie die Beschlüsse der internationalen Kongresse nicht durchführen könne und die Maifeier, die bald zwanzig Jahre lang in Deutschland mit steigendem Erfolg eingehalten wurde, aufgeben müsse. Daß eine solche Tatsache, daß die seit den letzten Jahren in Deutschland zwischen Partei und Gewerkschaften unausgesetzt geführten Auseinandersetzungen über die Maifeier, daß solche Beschlüsse wie der der stärksten Gewerkschaft Deutschlands, der Metallarbeiter[3], auf die Arbeiterbewegung in allen Ländern tief deprimierend wirken müssen, liegt auf der Hand. Denn bei allen den Proletariern der Internationale, die bis jetzt mit Stolz auf die Kraft der deutschen Arbeiterbewegung blickten und als das Ziel ihres innersten Sehnens und Strebens betrachteten, der deutschen Bewegung in der Stärke der

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[1] Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart fand vom 18. bis 24. August 1907 statt.

[2] Die Internationale Konferenz der gewerkschaftlichen Landeszentralen fand vom 30. August bis 1. September 1909 in Paris statt.

[3] Auf der neunten Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes vom 31. Mai bis 5. Juni 1909 in Hamburg wurde in einer Resolution die Bedeutung der Maifeier für den Kampf der Arbeiterklasse herabgesetzt und den Mitgliedern überlassen, an der Arbeitsruhe am 1. Mai teilzunehmen. Es wurde ausdrücklich betont, daß eine Beteiligung an der Arbeitsruhe den Verbandsmitgliedern nicht zur Pflicht gemacht werden könne.