Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 273

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Es wäre dies in der Tat eine Art, auf die jüngsten Backenstreiche der Reaktion: auf den Hottentotten-[1] und den Schnapsblock[2], auf die neue Riesensteuerlast[3], auf die Verhöhnung und Aushungerung der Massen, zu reagieren, die von diesen Massen schwerlich begriffen werden dürfte. In einer Zeit der sich immer mehr verschärfenden und zuspitzenden Gegensätze, der immer frecheren Provokationen des Klassenstaates, der immer hoffnungsloseren und sterileren Bemühungen um positive Errungenschaften und Konzessionen der herrschenden Gesellschaft, in einer solchen Zeit der scharfen Sturmwinde freiwillig eine so hervorragende Kampfwaffe wie die Maifeier aus der Hand geben, sich eines so einzigen Mittels begeben, die breitesten Massen aufzurütteln, zu begeistern, für den Sozialismus zu gewinnen, sie im Gedanken der Internationalität zu erziehen, das wäre wahrhaft eine Taktik, die mit den Traditionen der deutschen Sozialdemokratie in seltsamen Widerspruch geraten würde. Das wäre ein Rückzug von der bisherigen Gefechtslinie – und kein rühmlicher Rückzug. Welches die Stimmung der breiten Volkskreise gegenwärtig in Deutschland ist, das kann man aus den jüngsten Nachwahlen zum Reichstag[4], das kann man aus der katzenjämmerlichen Stimmung der bürgerlichen Gegner selbst erkennen. Was die Massen von uns jetzt erwarten, ist sicher die Festigung, die Verschärfung unserer Kampftaktik und keineswegs ihre Abschwächung. Die Preisgabe der Maifeier wäre ein Schlag ins Gesicht der von der Reaktion zum Weißbluten gebrachten und mit Füßen getretenen Massen. Der Leipziger Parteitag wird sich ein hohes Verdienst vor unserer wie vor der internationalen Arbeiterbewegung erwerben, wenn er dem grausamen Spiele ein Ende machen [wird] und die Aufrechterhaltung der Maifeier in so unzweideutiger Weise beschließt, daß den weiteren unwürdigen Experimenten, die nur den langsamen Tod der Maifeier bedeuten, mit kräftiger Hand ein Riegel vorgeschoben wird.

Leipziger Volkszeitung, Nr. 210 vom 11. September 1909.

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[1] Nach den Wahlen zum Reichstag am 25. Januar und 5. Februar 1907 (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.

[2] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

[3] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.

[4] In der Zeit vom 1. August 1908 bis 31. Juli 1909 fanden 14 Nachwahlen zum Reichstag statt, bei denen sich die für die Sozialdemokratie abgegebenen Stimmen im Verhältnis zu den Reichstagswahlen von 1907 von 16 auf 18 Prozent erhöhten.