Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 172

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Entwicklung, damit wir aus der Geschichte lernen. („Sehr richtig!“) Wenn man heute angesichts der großartigen russischen Revolution, die auf Jahrzehnte hinaus die Lehrmeisterin der revolutionären Bewegungen des Proletariats sein wird, das Problem des Massenstreiks hauptsächlich an der Hand der Vorgänge in Italien und Frankreich studiert, so beweist man damit, was eben Legien mit seinem Appell an die Tradition bewiesen hat, daß man nichts zu lernen und nichts zu vergessen versteht. (Unruhe. – Zustimmung.) Jawohl, Sie verstehen nichts zu lernen aus der russischen Revolution. (Legien: „Sehr richtig!“) Sonst würden Sie nicht den Mut haben zu behaupten, die Massenstreikbewegung wäre die äußerste Gefahr für den Bestand der Gewerkschaften. Sie haben offenbar keine Ahnung davon, daß die gewaltige russische Gewerkschaftsbewegung ein Kind der Revolution ist. („Sehr richtig!“ und Widerspruch.) Das russische Proletariat ist in die Revolution ohne die Spur einer Organisation eingetreten, und heute ist das ganze Land mit kräftigen Organisationsansätzen bedeckt. Das ist eben die alte verknöcherte englische Auffassung, daß die Gewerkschaften nur bei ruhiger Entwicklung gedeihen können. Die russische Revolution hat bewiesen, daß vielfach aus dem Kampf die kräftigsten proletarischen Organisationen geboren werden und gedeihen können. David hat wiederum von seinem speziellen Mainzer gesetzlichen Standpunkt[1] aus an der Idee des Massenstreiks Kritik geübt. Er hat uns als Popanz die Maschinengewehre vorgeführt. Auch er hat keine Ahnung davon, was in Rußland vorgeht (Lachen.), er vergißt, daß die Maschinengewehre von lebendigen Leuten, von Soldaten bedient werden und daß sie, wenn die Zeit reif ist, ihre Wirksamkeit nicht verlieren. Sie bleiben ebenso tödlich, sie werden nur angelegt gegen das herrschende Regime. (Lebhafter Beifall.) Ein letztes Argument von Legien war so beschaffen, daß es beweist, daß Legien wirklich in manchen Beziehungen in den Begriffen der Kindlichkeit geblieben ist. (Lachen.) Er sagte, wir hätten durch die Annahme der Jenaer Resolution eine unvorsichtige Handlung begangen; wir hätten den Feinden unsere Pläne verraten. Seit wann werden denn große geschichtliche Bewegungen, große Volksbewegungen auf dem Wege heimlicher Abmachungen in geschlossenem Zimmer abgewickelt? („Sehr gut!“) Das ist eine kindliche Vorstellung vom Generalstreik, wenn man glaubt, sein Schicksal hänge davon ab, was die Generalkommission sogar mit dem Parteivorstand in stiller Kammer beschließt[2]. (Lebhafte Zustimmung und Lachen.) Ich wollte noch ein paar Worte zur Rede

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[1] Da das Vorhandensein einer solchen Tendenz innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gewöhnlich geleugnet wird, so muß man die Offenherzigkeit begrüßen, mit der die opportunistische Richtung neulich ihre eigentlichen Ziele und Wünsche formuliert hat. In einer Parteiversammlung in Mainz am 10. September d. J. wurde folgende von Dr. David vorgelegte Resolution angenommen:

„In der Erwägung, daß die Sozialdemokratische Partei den Begriff ‚Revolution‘ nicht im Sinne des gewaltsamen Umsturzes, sondern im friedlichen Sinne der Entwicklung, d. h. der allmählichen Durchsetzung eines neuen Wirtschaftsprinzips, auffaßt, lehnt die Mainzer öffentliche Parteiversammlung jede ‚Revolutionsromantik‘ ab.

Die Versammlung sieht in der Eroberung der politischen Macht nichts anderes als die Eroberung der Mehrheit des Volkes für die Ideen und Forderungen der Sozialdemokratie; eine Eroberung, die nicht geschehen kann mit gewaltsamen Mitteln, sondern nur durch die Revolutionierung der Köpfe auf dem Wege der geistigen Propaganda und der praktischen Reformarbeit auf allen Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens.

In der Überzeugung, daß die Sozialdemokratie weit besser gedeiht bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz, lehnt die Versammlung die ‚direkte Massenaktion‘ als taktisches Prinzip ab und hält an dem Prinzip der parlamentarischen Reformaktion fest, d. h., sie wünscht, daß die Partei nach wie vor ernstlich bemüht ist, auf dem Wege der Gesetzgebung und der organischen Entwicklung allmählich unsere Ziele zu erreichen.

Die fundamentale Voraussetzung dieser reformatorischen Kampfesmethode ist freilich, daß die Möglichkeit der Anteilnahme der besitzlosen Volksmasse an der Gesetzgebung im Reiche und in den Einzelstaaten nicht verkürzt, sondern bis zur vollen Gleichberechtigung erweitert wird. Aus diesem Grunde hält es die Versammlung für ein unbestreitbares Recht der Arbeiterschaft, zur Abwehr von Attentaten auf ihre gesetzlichen Rechte sowie zur Erringung weiterer Rechte, wenn alle anderen Mittel versagen, auch die Arbeit für kürzere oder längere Dauer zu verweigern.

Da der politische Massenstreik aber nur dann siegreich für die Arbeiterschaft durchgeführt werden kann, wenn er sich in streng gesetzlichen Bahnen hält und seitens der Streikenden kein berechtigter Anlaß zum Eingreifen der bewaffneten Macht geboten wird, so erblickt die Versammlung die einzig notwendige und wirksame Vorbereitung auf den Gebrauch dieses Kampfmittels in dem weiteren Ausbau der politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisation. Denn nur dadurch können die Voraussetzungen in der breiten Volksmasse geschaffen werden, die den erfolgreichen Verlauf eines Massenstreiks garantieren: zielbewußte Disziplin und einen geeigneten wirtschaftlichen Rückhalt.“ [Fußnote im Original]

[2] In einer geheimen Beratung des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands am 16. Februar 1906 hatte der Parteivorstand den Gewerkschaftsführern das Zugeständnis gemacht, den politischen Massenstreik nicht ohne ihr Einverständnis zu propagieren und ihn, wenn möglich, zu verhindern. Falls er trotzdem ausbrechen sollte, brauchten sich die Gewerkschaften nicht daran zu beteiligen.