Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 290

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Es gibt Fälle, wo Demonstrationen allein durch Einschüchterung des Feindes den Zweck erreichen. Doch abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß der Feind, in diesem Falle die vereinigte junkerlich-großbürgerlich-monarchische Reaktion Preußen-Deutschlands, vor Straßenkundgebungen der Volksmassen nicht im geringsten die Segel zu streichen gesonnen ist, vermögen Demonstrationen auch nur dann einen wirksamen Druck auszuüben, wenn hinter ihnen die ernste Entschlossenheit und Bereitschaft steht, nötigenfalls zu schärferen Mitteln des Kampfes zu greifen. Und dazu gehört vor allem Klarheit darüber, was wir zu unternehmen gedenken, wenn die Straßendemonstrationen sich zur Erreichung ihres direkten Zweckes als unzulänglich erweisen.

Die Notwendigkeit völliger Klarheit und Entschlossenheit in dieser Hinsicht hat ja auch die bisherige Erfahrung der Partei bewiesen. Bereits vor zwei Jahren haben wir die ersten Versuche in Preußen mit Straßendemonstrationen unternommen.[1] Die Massen erwiesen sich auch damals auf der Höhe der Situation, sie folgten begeistert dem Appell der Sozialdemokratie. Ein frischer Hauch, eine Hoffnung auf neue, wirksamere Kampfformen, eine Entschlossenheit, vor keinem Opfer und keiner Einschüchterung zurückzuweichen, ließen sich deutlich in den aufgeregten Massen verspüren. Und was war das Schlußergebnis? Die Partei gab keine weitere Parole aus, die Aktion wurde nicht erweitert und fortgesetzt, im Gegenteil, die Massen wurden wieder abgewinkt, die allgemeine Erregung flaute alsbald ab, und die ganze Sache verlief eigentlich im Sande.

Dieses erste Experiment dürfte ein Fingerzeig und eine Warnung für unsere Partei sein, daß die Massenkundgebungen ihre eigene Logik und ihre Psychologie haben, mit denen zu rechnen ein dringendes Gebot für Politiker ist, die sie meistern wollen. Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärtskommen. Und gebricht es der leitenden Partei im gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich zusammen.

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[1] Ende 1907/Anfang 1908 hatten die in Berlin und anderen Städten Deutschlands, vor allem in Preußen, durchgeführten Demonstrationen für die Einführung eines demokratischen Wahlrechts den bisher größten Umfang angenommen. Im Ergebnis dieser Massenbewegung mußten im Juni 1908 trotz des reaktionären Dreiklassenwahlrechts 7 Sozialdemokraten, darunter Karl Liebknecht, zum preußischen Abgeordnetenhaus zugelassen werden.