Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 291

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Eine kleine, aber deutliche Warnung in diesem Sinne haben wir bereits zu Beginn der gegenwärtigen Kampagne erhalten. Als die Parteileitung für Berlin jene 62 Versammlungen im Januar veranstaltete, mit der Absicht, keine Straßendemonstrationen an dieselben zu knüpfen, da erlebten wir in Wirklichkeit eine Enttäuschung. Bekanntlich waren jene Versammlungen trotz der entfalteten Agitation durchaus ungenügend besucht, und erst am 13. Februar[1], als die Straßenumzüge von vornherein geplant wurden, folgte die Masse begeistert in unübersehbaren Scharen dem Parteiappell. Es ist klar, daß das Schema, fein säuberlich das ganze Register von Versammlungen ohne Straßendemonstrationen zu Versammlungen mit Straßendemonstrationen und so weiter, jedesmal von Anfang wieder durchzumachen, sich in der Praxis einfach nicht durchführen läßt. Die proletarischen Massen in Berlin und in den meisten größeren Industriezentren Preußens sind bereits von der Sozialdemokratie so stark aufgerüttelt, daß ihnen die Form bloßer Protestversammlungen gegen das preußische Wahlunrecht mit der üblichen Annahme von Resolutionen nicht mehr genügt. Die Straßendemonstrationen sind heute das Geringste, was dem Tatendrang der grollenden Massen und der gespannten politischen Situation entspricht.

Aber wie lange noch? Man müßte wenig Fühlung mit dem geistigen Leben der Parteimassen im Lande haben, um nicht ganz deutlich wahrzunehmen, daß die Straßendemonstrationen, schon nach ihrem ersten Anlauf in den letzten Wochen, durch ihre innere Logik eine Stimmung ausgelöst und zugleich objektiv eine Situation auf dem Kampfplatz geschaffen haben, die über sie hinausführt, die über kurz oder lang weitere Schritte, schärfere Mittel unumgänglich notwendig macht.

Die Vorgänge in der Wahlrechtskommission wie im Plenum des preußischen Abgeordnetenhauses, die Tatsache, daß selbst die demagogischste aller Parteien, das Zentrum, sich nicht gescheut hat, durch den Block mit dem Junkertum[2] jede Hoffnung auf eine ernste Reform des Wahlrechts zu vernichten, das alles als Antwort auf die großartigen Demonstrationen in ganz Preußen ist ein Faustschlag ins Gesicht der demonstrierenden Massen und der Sozialdemokratie an ihrer Spitze, ein Schlag, der unmöglich uner‑

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[1] Am 13. Februar 1910 fanden in Berlin und vielen Städten ganz Deutschlands mächtige Wahlrechtsdemonstrationen statt, die durch die provokatorische Bekanntmachung des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.]) über das Verbot von Straßendemonstrationen unter Androhung von Waffengebrauch ausgelöst worden waren.

[2] Das Zentrum, in dessen offiziellem Programm die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen gefordert wurde, hatte sich am 23. Februar 1910 in der Wahlrechtskommission gemeinsam mit den Konservativen gegen die Einführung des direkten Wahlrechts ausgesprochen. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren. In: GW, Bd. 2, S. 312–314.