Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 292

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widert bleiben kann. Nachdem der offene Kampf einmal aufgenommen worden ist, muß durch unerbittliche eiserne Logik dieses Kampfes selbst Schlag auf Schlag folgen. Nachdem die Reaktion die Massenkundgebungen mit der Verhunzung der Wahlrechtsvorlage[1] in der Kommission und im Plenum quittiert hat, muß die Masse unter der Führung der Sozialdemokratie jene Verhunzung mit einem neuen Vorstoß quittieren. In einer Situation wie die gegenwärtige ist langes Zögern, sind ausgedehnte Pausen zwischen den einzelnen Kampfakten, Unentschlossenheit in der Wahl der Mittel und der Strategie des weiteren Kampfes beinahe soviel wie eine verlorene Schlacht. Es ist notwendig, die Gegner in Atem zu halten und sie sich nicht in den Wahn steigern zu lassen, daß wir doch nicht wagen würden, weiter als bis jetzt zu gehen, daß uns der Mut der Konsequenz fehlen würde. Andererseits genügen die Straßendemonstrationen bald nicht mehr dem psychologischen Bedürfnis, der Kampfstimmung, der Erbitterung der Massen, und wenn die Sozialdemokratie nicht entschlossen einen Schritt weiter tut, wenn sie den richtigen politischen Moment sich entgehen läßt, um eine weitere Losung auszugeben, so dürfte es ihr kaum gelingen, die Straßendemonstrationen noch eine längere Zeit hindurch aufrechtzuerhalten, die Aktion wird dann schließlich einschlafen und wie vor zwei Jahren im Sande verlaufen. Dieselbe Erfahrung bestätigen die Beispiele analoger Kämpfe in Belgien[2], in Österreich-Ungarn[3], in Rußland[4], die gleichfalls jedesmal die unvermeidliche Steigerung, das Fortschreiten der Massenaktion aufwiesen und erst dank dieser Steigerung einen politischen Effekt erzielten.

Noch ein Umstand ist geeignet, als ein deutlicher Wink zu dienen, daß für die Sozialdemokratie die Straßendemonstrationen allein bald ein von der Welle der Ereignisse überholtes Mittel sein werden. Es sind ja schon bürgerliche Demokraten, linksfreisinnige Elemente des Bürgertums, die Straßendemonstrationen veranstalten! Freilich datiert der Mut dieser obdachlosen Politiker, wie jedermann sieht, von der sozialdemokratischen Initiative her, und freilich füllt die Versammlungen und die Straßenumzüge,

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[1] In der Quelle: Wahlrechtsfrage.

[2] Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250 000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.

[3] Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 dem Parlament ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.

[4] Unter dem Druck des gesamtrussischen politischen Generalstreiks im Oktober 1905, einem Höhepunkt der Revolution in Rußland, mußte der Zar im Manifest vom 30. Oktober 1905 der Einberufung einer konstituierenden Versammlung, bürgerlichen Freiheiten und dem Wahlrecht für Arbeiter, für die städtisdhe Intelligenz und für Angehörige freier Berufe zustimmen.