Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 553

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binnen sieben Monaten ein und dasselbe, mit winzigen Pausen von zwei Wochen, viermal hintereinander herzusagen. Daß dies für den Unterrichtenden, der etwas Lust und Liebe in seine Arbeit hineinlegt, zur geistigen Qual werden, seinen Unterricht für ihn selbst, also in letzter Linie auch für die Schüler, mechanisch und öde machen muß, scheint bei einiger Überlegung für jeden klar zu sein. Freilich bildet die Gewerkschaftsschule auf diese Weise jedes Jahr etwa 250 Beamte aus, während die Parteischule nur an einem Zehntel dieser Zahl sich genügt. Allein es scheint, daß die rapide Massenproduktion auch hier nicht für ein gediegenes geistiges Produkt geeignet ist.

Die angeführte vergleichende Prüfung soll durchaus kein Vorwurf gegen die Schöpfer und Leiter der Gewerkschaftsschule sein. Die Neuheit des Experiments – und unsre Gewerkschaften waren ja, was ihr unbestreitbares Verdienst ist, die ersten, die Pioniere auf diesem Gebiete – macht die Schwierigkeit der Aufgabe sowie mancherlei Mißgriffe nur zu begreiflich. Die Organisation pädagogischer Anstalten des proletarischen Klassenkampfes will erst gelernt sein, wie jedes Stück der Emanzipationsbestrebungen des Proletariats. Ein gewisser Vorwurf könnte an die Leiter der Gewerkschaftsschule erst dann gerichtet werden, wenn sie aus ihrer eigenen Erfahrung sowie aus der Erfahrung analoger nachbarlicher Institutionen nicht lernen wollten. Wenn deshalb der Vorsitzende des Metallarbeiterverbands, Genosse Schlicke, auf dem jüngsten Verbandstag seiner Gewerkschaft[1] einen Antrag, die Parteischule zu beschicken, mit der Frage abgelehnt hat: Was bietet die Parteischule den Gewerkschaften? so muß jeder mit den Verhältnissen Vertraute mit Verwunderung eine andre Frage des Genossen Schlicke vermissen: Was bietet die Gewerkschaftsschule den Gewerkschaften? Wäre diese Frage, wie richtig, zuerst gestellt, dann würde vielleicht die Antwort auf jene andre anders ausgefallen sein. In der Tat: Werden die enormen Mittel, die für die Gewerkschaftsschule verausgabt werden, bei ihrer fehlerhaften Organisation nicht vielleicht – den besten Absichten und dem Opfermut der Generalkommission zuwider – ganz unnütz geopfert? Und haben da nicht vielleicht die „Dogmatiker“ und „Doktrinäre“ der Sozialdemokratie wieder einmal sich viel praktischer erwiesen als die Spezialisten von der „praktischen Politik“?

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 140 vom 21. Juni 1911.

<554> Zum kommenden Parteitag

Leipzig, 29. Juni

Die vom Parteivorstand veröffentlichte Tagesordnung des diesjährigen Parteitags[2] ermangelt nicht der Originalität. Sie enthält – abgesehen von den ordnungsgemäßen Berichten des Vorstands, der Kontrollkommission und der Reichstagsfraktion – im Grunde genommen nur einen einzigen Punkt: die bevorstehenden Reichstagswahlen[3]. Die Reichsversicherungsordnung[4], die den andern Punkt der eigentlichen Tagesordnung bildet, ist zwar an sich ein höchst wichtiger Gegenstand, der auf dem Parteitag selbstverständlich verhandelt werden muß. Allein die parlamentarischen Geschicke der Reichsversicherung als eines Gesetzes sind bereits entschieden. Was jetzt übrigbleibt, ist die gebührende Ausnutzung des uns dabei gelieferten Materials gegen die Regierung und sämtliche bürgerliche Parteien zur Aufklärung und Aufrüttelung der breitesten Kreise des Proletariats. Diese Aufklärungs- und Aufrüttelungsarbeit verflicht sich ganz naturgemäß mit unserm allgemeinen Wahlkampf, in dem sie eine hervorragende Rolle zu spielen berufen ist. Materiell Neues zur Beleuchtung der Reichsversicherungsordnung wird nach den ausführlichen Betrachtungen in unsrer gesamten Parteipresse und nach den Reden und Anträgen unsrer Fraktion im Reichstag kaum noch übrigbleiben. Worauf es jetzt ankommt, sind die großen taktischen Richtlinien für die agitatorische Verwertung des neuen Attentats auf die Arbeiterklasse, damit gliedert sich aber der 4. Punkt der vorgeschlagenen Tagesordnung des Parteitags organisch dem 5„ den Reichstagswahlen, an. So haben wir eigentlich einen Parteitag, der nur zu dem Ende zusammentreten soll, um über die bevorstehenden

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[1] Die zehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes fand vom 5. bis 10. Juni 1911 in Mannheim statt.

[2] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 10. bis 16. September 1911 in Jena statt.

[3] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[4] Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte der Werktätigen hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.