Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 531

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/531

der unvergleichliche politische Schauspieler Bismarck machte und bei denen man Ähnliches wie heute erlebte; aber wir haben ja erst vor kurzem die bekannten Hottentottenwahlen[1] gehabt, bei denen man die patriotische Begeisterung des Spießertums gegen 3 000 Hottentotten mobil machte. Wie 1887 die Parole gegen den innern Feind lautete, so sucht man jetzt nach einer ähnlichen Losung. Man glaubte anfänglich, daß die Marokkoaffäre[2] eine geeignete Parole abgeben würde, daß man durch die Drohung eines Konflikts mit Frankreich das gewünschte Ziel erreichen könne, und ich habe erst kürzlich im Rheinland in einem gelben Blatt gelesen, daß die wichtigste Frage ein Krieg um Marokko sei. Damit ist es nun nichts, und wenn den Herrschaften nichts anderes übrigbleibt, so werden sie wohl den Wahltermin auf den nächsten Kaisergeburtstag verlegen müssen. (Große Heiterkeit.) Ja, Genossen, wir Sozialdemokraten haben allen Grund, diesem ängstlichen Hin und Her mit dem nötigen Humor zuzuschauen. Während die übrigen Parteien eifrig nach einer Parole suchen und dabei von einem aufs andere verfallen, tritt die Sozialdemokratie klar und gefestigt auf den Plan, um die Sünden. der Herrschenden vor dem erbitterten Volke aufzurollen. Wenn ein Politiker sich die Aufgabe stellte, alle diese Sünden eingehend zu würdigen, so steht er vor einer gewaltigen Arbeit bei dem erdrückenden Material, das die bürgerlichen Parteien uns geliefert haben. Man weiß nicht, wo man zuerst mit diesen Sünden anfangen soll. Eine Frage aber ist es, die uns alle gleichmäßig beschäftigt, das ist die Frage des täglichen Brotes! Wir stehen da vor allem vor zwei Parteien, die diese Frage zu der brennendsten machten, den Junkern mit ihrem Häuptling Oldenburg mit dem Spruch „Mit Gott für König und Vaterland“ und vor dem Zentrum, das das „Christentum“, die „christliche Nächstenliebe“ in Erbpacht genommen. Wie es nun unter der unumschränkten Herrschaft dieser Parteien mit dem täglichen Brote aussieht, das Ihnen noch sagen zu wollen wäre Hohn. Sind Sie es doch, sind es doch vor allem die Arbeiterfrauen, die mit dem kärglichen Einkommen bei der herrschenden Teuerung haushalten müssen.

Nächste Seite »



[1] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903. Nach den Wahlen hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.

[2] Im Frühjahr 1911 unternahm die französische Regierung den Versuch, ihre kolonialen Pläne in Marokko ohne deutsche Beteiligung durchzusetzen. Sie nahm einen Aufstand der Marokkaner in der Umgebung der Hauptstadt Fez zum Anlaß, die Stadt zu besetzen. Dieses Vorgehen Frankreichs nahm die deutsche Regierung als Vorwand für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an frühere Abkommen über Marokko gebunden. Anfang Juli entsandte die deutsche Regierung zwei Kriegsschiffe nach Agadir und beschwor durch diese Provokation die Gefahr eines imperialistischen Weltkrieges herauf.