Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 532

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Und dabei wird von unseren Gegnern noch gesagt, die Frau gehöre ins Haus. Wenn eine Arbeiterfrau bei den heutigen himmelschreienden Zuständen es noch fertigbringt, ihre Kinder einigermaßen zu ernähren, zu bekleiden, anständig zu erziehen, so könnte so ein Finanzgenie sämtliche Finanzminister in die Tasche stecken. (Lebhaftes „Sehr richtig!“) Woher kommt es denn nun, daß gerade jetzt diese Teuerung beständig steigt? Wir haben solche Teuerungen auch in vergangenen Jahrhunderten gehabt, von denen man als dem finsteren Mittelalter spricht, aber da sind die Ursachen leichter erklärlich. Wenn ein langer Krieg, wenn schwere Seuchen, Cholera und Pest, wenn Mißernten das Land heimsuchten, dann gab es Teuerung, in solchen Zeiten war Teuerung etwas Selbstverständliches. Nun, wir haben uns die Frage vorgelegt, warum wir heute diese Teuerung haben; heute haben wir keine Mißernten gehabt, keinen Krieg und keine Pest. Woher kommt es also, daß wir heute so furchtbar unter der Plage der Teuerung zu leiden haben? Genossen, wir haben eine Pest – die Herrschaft des Junkertums; diese Pest ist tausendmal schlimmer als die des Mittelalters, und das Bezeichnendste an ihr ist, daß sie uns die Nahrungsmittel künstlich verteuert durch Zölle und indirekte Steuern auf Lebensmittel. (Vielfaches „Sehr richtig!“) Es ist ja schon eine Reihe von Jahren her, daß diese Wendung eintrat. Es war im Jahre 1878, als Bismarck die Lebensmittelzölle schuf, und ich mache besonders auf das Datum aufmerksam, denn es ist das Jahr, in dem uns auch ein anderes Geschenk zuteil wurde. Es ist kein Zufall, daß gerade das Jahr 1878 dem deutschen Volke auch das Sozialistengesetz brachte. Es ist logisch, daß man, während man dem Volke tief in die Tasche faßte, gleichzeitig die Massen knebelte. Indem man die Sozialdemokratie niederknüttelte, knebelte man das öffentliche Gewissen! Seit dem Jahre 1878 marschiert Deutschland mit dieser Hungerpolitik an der Spitze, und ich werde nur zwei Wendepunkte besonders herausgreifen, die das bestätigen. Da ist zuerst der berüchtigte Hungerzolltarif[1], der 1902 gemacht wurde und 1906 in Kraft trat. Damals war die Sozialdemokratie die einzige Partei, die diesem Raubzuge mit allen Mitteln entgegentrat. Genossen, es ist ein unvergeßliches Kapitel, dieser Kampf der Sozialdemokratie gegen den Hungerzolltarif! Es war bezeichnenderweise in der Adventnacht, in der Nacht, als man von den Kirchen ein großes christliches Fest einläutete, als das Unerhörte geschah. Es dauerte bis in die späte Nacht hinein, ja der Morgen graute schon, als die herrschende Clique den letzten Widerstand des Häufleins Sozialdemokraten, das mit allen Mitteln verzweifelt gegen die

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[1] Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, wodurch die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Am 1. März 1906 traten die neuen Zolltarife in Kraft und brachten für die Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.