Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 533

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Gewalttat ankämpfte, durch frechen Bruch der Geschäftsordnung niederrang. Und als es den bürgerlichen Parteien endlich gelungen war, ihren Raub in Sicherheit zu bringen, da eilte der Kanzler in das Palais seines kaiserlichen Herrn, um ihm den Sieg zu melden. Er ist nach Verdienst belohnt worden; er empfing die goldene Verdienstkette. Der Kaiser ahnte damals nicht, daß mit jener Handbewegung, die den Siegern die goldene Verdienstkette brachte, dem deutschen Volke die eiserne Hungerkette verliehen wurde.

Es folgte 1909 die neue Finanzreform.[1] Diejenigen, die der neuen Steuer diesen Namen gegeben, spekulierten damit auf die Naivität derer, die nicht alle werden. Auch sie hat wieder enorme Verteuerungen auf die wichtigsten Lebensmittel gebracht mit ihren 500 Millionen neuen Steuern.

Wenn 1878, also zu Beginn des neuen Deutschen Reichs, die indirekten Steuern schon jährlich die enorme Summe von etwas weniger als 400 Millionen betrugen, so war das doch das reinste Kinderspiel gegen das, was wir jetzt erleben, denn im Jahre 1910 war diese Last auf eine Milliarde 980 Millionen Mark angewachsen, also auf beinahe zwei Milliarden! („Hört! Hört!“) Aber Sie würden sich irren, wenn Sie annehmen, daß damit Ihre Abgaben schon erschöpft seien, o nein, enorme Profite nehmen unsere inländischen Ausbeuter durch ein ganz raffiniertes System des Getreideexportes für sich in Anspruch, die auch Sie wieder bezahlen müssen. So wird das arbeitende Volk von zwei Seiten zu gleicher Zeit gebrandschatzt. Man hat berechnet, daß etwa eine Milliarde 900 Millionen den Junkern auf dem Lande und den Industrierittern der Großindustrie in die Taschen fließen, also zusammen an vier Milliarden hat das deutsche Volk jährlich aufzubringen. Es spricht sich so leicht aus und ist doch konkret gar nicht zu fassen, was das bedeutet, darum will ich es Ihnen an einem Beispiel aus der Geschichte veranschaulichen. Als 1870 die französische Bourgeoisie durch den blutigen „glorreichen“ Krieg zu Boden geworfen wurde, da waren es zwei Männer, die sich erhoben und einen ehrlichen Frieden mit Frankreich forderten, Liebknecht und Bebel. Diese beiden mutigen Sozialisten mußten ihr „Verbrechen“ auf der Festung büßen, und Bismarck setzte dem getretenen Frankreich den Kürassierstiefel auf die Brust: Fünf Milliarden Francs mußte das blutende Land an Kriegskontributionen zahlen. Aber Frankreich zahlte diese Blutsteuer nur einmal. Genossen! Wir zahlen diese Kriegskontribution Jahr für Jahr, und das mitten im tiefsten Frieden! Es gehört sich, jede Frage mit Gründlichkeit zu erörtern. Man sagt uns, Deutschland sei ein zivilisierter Staat und

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[1] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.