Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 534

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brauche zur Erfüllung seiner Kulturaufgaben doch die Steuern. Nun, wir Sozialdemokraten leben in keinem Wolkenkuckucksheim, als praktische Politiker wissen wir, daß der Staat zur Erfüllung großer Aufgaben Steuern braucht, ja wir gehen sogar noch weiter, wir sagen, der Staat hat noch viel größere Mittel zur Erfüllung von Kulturaufgaben nötig. Aber wir sagen auch, daß der Staat nicht aus den Taschen der Ärmsten die Mittel nehmen soll, um damit die Taschen der Junker zu füllen! Noch immer stellen wir die Forderung, die schon Lassalle stellte, daß nicht die Mittellosen zur Aufbringung der Steuern gepreßt werden. Wir verlangen Abschaffung der indirekten Steuern und Zölle, wir verlangen Vermögens- und Erbschaftssteuer, damit auch die, die schon aus dem Mutterleibe als reiche Leute auf die Welt kommen, die Lasten tragen. („Sehr gut!“ und lebhaftes „Bravo!“) Wir sagen, es gibt keine infamere Art, als den Bissen Brot des Armen zu besteuern, und es gibt keine gerechtere Art, als die Reichen und Wohlhabenden zu den Lasten heranzuziehen. Aber der heutige Staat denkt ja gar nicht daran, Kulturaufgaben zu erfüllen! Wozu dienen also die enormen Steuern, die man den Ärmsten auf die Lebensmittel legt? Diese Frage ist sehr leicht zu beantworten. Es ist der eine Abgrund, in dem alles, alles verschwindet, es ist der Militarismus! Nicht für Schulen, nicht für Krankenhäuser, nicht für Arme und Sieche werden die Millionen verbraucht, für Kanonen, für Kasernen, für Panzerschiffe werden die Milliarden verpulvert. Und damit Sie selbst urteilen, mögen einige Zahlen sprechen:

Im Jahre 1872 betrug die Kriegspräsenzstärke des deutschen Heeres an Offizieren und Soldaten 359 000 Mann. Das war in dem Jahre des „glorreichen“ Krieges. Es scheint für den gewöhnlichen Menschenverstand unbegreiflich, daß, wenn man mit dieser Armee einen bedeutend überlegenen Gegner zu überwinden vermochte, die Militärmacht auf heute über 700 000 Mann gebracht werden mußte. Man faßt sich an den Kopf, wenn man bedenkt, daß diese gewaltige Zahl junger Männer in der Blüte ihres Lebens ihrem Berufe und damit der Schaffung des Nationalvermögens entzogen wird. Nun wird von den Herrschenden gesagt, ja das Volk wächst, da muß doch die Militärmacht auch wachsen. Aber nun sehen wir uns das Verhältnis an: 1871 hatten wir eine Bevölkerung von 41 Millionen, 1909 waren es 64 Millionen, also eine Steigerung von noch nicht 50 Prozent. Die Armee aber hat sich in dieser Zeit verdoppelt! Also die Armee wächst zweimal so schnell wie das deutsche Volk. Das heißt, wenn es so fort geht, wird bald die Zeit kommen, wo auf einen neugeborenen Deutschen zwei hübsche Soldaten kommen (Große Heiterkeit.),

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