Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 100

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„propagieren“ oder selbst zu „diskutieren“, wie in Rußland. Und die vereinzelten Beispiele von Beschlüssen und Abmachungen des russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aus freien Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuch im August dieses Jahres nach der Dumaauflösung[1], sind fast gänzlich gescheitert. Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, daß der Massenstreik nicht künstlich „gemacht“, nichts ins Blaue hinein „beschlossen“, nicht „propagiert“ wird, sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.

Nicht durch abstrakte Spekulationen also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks, sofldern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderen Worten, nicht durch subjektive Beurteilung des Massenstreiks vom Standpunkte des Wünschbaren, sondern durch objektive Untersuchung der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte des geschichtlich Notwendigen kann das Problem allein erfaßt und auch diskutiert werden.

In der freien Luft der abstrakten logischen Analyse lassen sich die absolute Unmöglichkeit und die sichere Niederlage sowie die vollkommene Möglichkeit und der zweifellose Sieg des Massenstreiks mit genau derselben Kraft beweisen. Und deshalb ist der Wert der Beweisführung in beiden Fällen derselbe, nämlich gar keiner. Daher ist auch insbesondere die Furcht vor dem „Propagieren“ des Massenstreiks, die sogar zu förmlichen Bannflüchen gegen die vermeintlichen Schuldigen dieses Verbrechens geführt hat, lediglich das Produkt eines drolligen Quiproquo. Es ist genauso unmöglich, den Massenstreik als abstraktes Kampfmittel zu „propagieren“, wie es unmöglich ist, die „Revolution“ zu propagieren. „Revolution“ wie „Massenstreik“ sind Begriffe, die selbst bloß eine äußere Form des Klassenkampfes bedeuten, die nur im Zusammenhang mit ganz bestimmten politischen Situationen Sinn und Inhalt haben.

Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine Form der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu machen, mit dieser „Idee“ hausieren zu gehen, um für sie die

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[1] Die I. Reichsduma begann ihre Tätigkeit am 27. April 1906. Getrieben von der revolutionären Bewegung mußte die Duma Projekte zur Lösung der Agrarfrage vorlegen. Die zaristische Regierung löste daraufhin die Duma wegen „Überschreitung ihrer konstitutionellen Befugnisse“ am 8. Juli 1906 auf.