Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 101

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Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige, aber auch ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation machen wollte. Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen und den Bedingungen des Klassenkampfes bedeutet. Es zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften Intelligenz der deutschen Proletariermasse, daß sie sich – ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen, daß man sie mit abstrakter Hirngymnastik über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Massenstreiks traktiert, sondern dadurch, daß man ihnen die Entwicklung der russischen Revolution, die internationale Bedeutung dieser Revolution, die Verschärfung der Klassengegensätze in Westeuropa, die weiteren politischen Perspektiven des Klassenkampfes in Deutschland, die Rolle und die Aufgaben der Masse in den kommenden Kämpfen klarmacht. Nur in dieser Form wird die Diskussion über den Massenstreik dazu führen, den geistigen Horizont des Proletariats zu erweitern, sein Klassenbewußtsein zu schärfen, seine Denkweise zu vertiefen und seine Tatkraft zu stählen.

Steht man aber auf diesem Standpunkte, dann erscheint in seiner ganzen Lächerlichkeit auch der Strafprozeß, der von den Gegnern der „Revolutionsromantik“ gemacht wird, weil man sich bei der Behandlung des Problems nicht genau an den Wortlaut der Jenaer Resolution[1] halte. Mit dieser Resolution geben sich die „praktischen Politiker“ allenfalls noch zufrieden, weil sie den Massenstreik hauptsächlich mit den Schicksalen des allgemeinen Wahlrechts verkoppelt, woraus sie zweierlei folgern zu können glauben: erstens, daß dem Massenstreik ein rein defensiver Charakter bewahrt, zweitens, daß der Massenstreik selbst dem Parlamentarismus untergeordnet, in ein bloßes Anhängsel des Parlamentarismus verwandelt wird. Der wahre Kern der Jenaer Resolution liegt aber in dieser Beziehung darin, daß bei der gegenwärtigen Lage in Deutschland ein Attentat

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[1] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.