Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 98

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selben blauen Luft ergibt sich neuerdings aus der Spekulation, daß der gewerkschaftliche Kampf die einzige „direkte Aktion der Massen“ und also der einzige revolutionäre Kampf ist – dies bekanntlich die neueste Schrulle der französischen und italienischen „Syndikatisten“. Das Fatale für den Anarchismus war dabei stets, daß die in der blauen Luft improvisierten Kampfmethoden nicht bloß eine Rechnung ohne den Wirt, das heißt reine Utopien waren, sondern daß sie, weil sie eben mit der verachteten, schlechten Wirklichkeit gar nicht rechneten, in dieser schlechten Wirklichkeit meistens aus revolutionären Spekulationen unversehens zu praktischen Helferdiensten für die Reaktion wurden.

Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des „Propagierens“[1] das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen rein anarchistischen Vorstellung aus, daß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen „beschlossen“ oder auch „verboten“ werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche „für alle Fälle“ zusammengeklappt bereithalten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann. Zwar nehmen gerade die Gegner des Massenstreiks für sich das Verdienst in Anspruch, den geschichtlichen Boden und die materiellen Bedingungen der heutigen Situation in Deutschland in Betracht zu ziehen, im Gegensatz zu den „Revolutionsromantikern“, die in der Luft schweben und partout nicht mit der harten Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten rechnen wollen. „Tatsachen und Zahlen, Zahlen und Tatsachen!“ rufen sie wie Mr. Gradgrind in Dickens’ „Harte Zeiten“. Was die gewerkschaftlichen Gegner des Massenstreiks unter „geschichtlichem Boden“ und „materiellen Bedingungen“ verstehen, sind zweierlei Momente: einerseits die Schwäche des Proletariats, anderseits die Kraft des preußisch-deutschen Militarismus. Die ungenügenden Arbeiterorganisationen und Kassenbestände und die imponierenden preußischen Bajonette, das sind die „Tatsachen und Zahlen“, auf denen diese gewerkschaftlichen Führer ihre praktische Politik im gegebenen Falle basieren. Nun sind freilich gewerk‑

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[1] Auf dem fünften Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln war eine Resolution angenommen worden, in der selbst die Diskussion über den politischen Massenstreik als verwerflich bezeichnet wurde.