Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 70

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bedeutet, daß vor allem die Gesetze abgeschafft werden, die zuungunsten irgendeiner Konfession oder der Konfessionslosigkeit erlassen worden sind. Die Menschen aller Konfessionen: die Griechisch-Orthodoxen, die Katholiken, die Uniierten, die Juden, die Protestanten, die Abtrünnigen, die Mohammedaner, und die Konfessionslosen müssen im Staat völlig gleichberechtigt behandelt werden, gleiche Rechte haben und gleichermaßen zu allen Ämtern und Würden zugelassen werden.

Doch nicht genug damit. Völlige Gewissensfreiheit besteht nicht, wenn irgendeine Konfession als die staatliche angesehen wird, das heißt, wenn deren Geistlichkeit und die Kirchen aus Staatsgeldern erhalten werden und der Religionsunterricht in den Staats- und Gemeindeschulen erteilt wird. Die Gelder der Regierungskassen stammen aus den Steuern, die die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme zahlt. Wenn die Regierungsgelder, die von der gesamten Bevölkerung stammen, für den Unterhalt der Geistlichkeit einer oder zweier beliebiger Konfessionen verwendet werden, so ist das ein Zwang und eine Benachteiligung für den Teil der Bevölkerung, der sich zu einer anderen Religion bekennt oder völlig konfessionslos ist. Wenn beispielsweise die Regierung gewaltige Summen für die Popen und die griechisch-orthodoxen Kirchen und teilweise auch für die katholische Geistlichkeit ausgibt, so ist das ein Unrecht gegenüber den Protestanten, den Unierten, den Juden, den Abtrünnigen und anderen Staatsbürgern, die ebenso Steuern zahlen. Eine wirkliche Gleichheit aller Konfessionen und völlige Gewissensfreiheit ist erst dann möglich, wenn die Regierung keine Konfession unterstützt und sich in Religionsangelegenheiten überhaupt nicht einmischt. Die Konfession ist dann eine Privatangelegenheit der Menschen. Jeder kann sich zu der Religion bekennen, die ihm paßt, und freiwillig zum Unterhalt der Geistlichkeit und der Kirchen seiner Konfession beisteuern. Die Menschen mit gleicher Religion bilden dann im Staat religiöse Gemeinden, von denen jede selbständig und freiwillig. ihre Kirche unterhält und ihren Kindern nach ihrem Willen Religionsunterricht erteilt.

Die Einführung des obligatorischen Religionsunterrichts in den Schulen führt angesichts der vielen verschiedenen Konfessionen immer zur Benachteiligung irgendeines Teils der Bevölkerung. Außerdem trennt der Religionsunterricht die Kinder des Volkes schon auf der Schulbank in einzelne Gruppen nach Konfessionen und verursacht dadurch Isolierung und Feindseligkeit zwischen ihnen, die zur gegenseitigen Verfolgung führen. Zur Verwirklichung einer echten Gewissensfreiheit fordert die Sozialdemokratie deshalb, daß alle Religionsfragen, und zwar sowohl der

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