Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 59

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die Interessen der Arbeiterklasse, daß die Arbeiter so früh wie möglich das Wahlrecht auszuüben beginnen, denn jede Verzögerung dieses Rechtes um einige Lebensjahre ist eine Benachteiligung des arbeitenden Volkes und ein Privileg seiner Feinde, der besitzenden Klassen.

Das Wahlrecht zum Staatsparlament wie auch zum Sejm muß ein gleiches sein, das heißt, es muß allen gleichermaßen zustehen. Die Reichen und die Armen, die Hochgestellten und das einfache Volk – jeder muß bei Wahlen je eine Stimme abgeben, niemand weniger und niemand mehr. Die herrschenden Klassen bemühen sich überall dort, wo sie gezwungen sind, dem Volk das Wahlrecht zu gewähren, den Einfluß des Volkes zumindest dadurch zu beeinträchtigen, daß sie den Mitgliedern der Bourgeoisie einen größeren Einfluß sichern als der Arbeiterklasse. Zu diesem Zweck bestimmen sie, daß alle diejenigen, die Grundbesitz oder ein gewisses Kapital haben oder Steuern in bestimmter Höhe zahlen, mehr Stimmen bei den Wahlen haben als diejenigen, die nichts besitzen, also die Arbeiter. So besagt zum Beispiel das Wahlrecht in Belgien, daß die Gutsbesitzer oder reichen Kapitalisten, die nebenbei beispielsweise die Würde eines Universitätsprofessors bekleiden, bei den Parlamentswahlen sogar drei Stimmen abgeben, die Wähler aus dem einfachen Volk dagegen – nur je eine. In Österreich sicherten sich die herrschenden Klassen ihre Überlegenheit über die Arbeiter bei den Wahlen auf andere Weise. Hier wählt nicht die gesamte männliche Bevölkerung gemeinsam, sondern jeder Stand für sich, wobei er eine besondere sogenannte Wahlkurie darstellt. Die Gutsbesitzer bilden also eine Kurie, die reichen Industriellen und Kaufleute eine zweite, das Kleinbürgertum die dritte, die Bauern die vierte, die ganze Masse des arbeitenden Volkes aber, die Stadt- und Landarbeiter, bilden die fünfte Kurie, in der jedoch zusammen mit den Proletariern alle anderen Wähler aus jenen privilegierten Kurien noch einmal abstimmen. Dabei wählen die Kurien der reichen Stände fast das ganze Parlament, und die fünfte Kurie, in der die Arbeiter abstimmen, kann nur eine kleine Handvoll Abgeordneter wählen, so daß die Masse des Volkes von vornherein dazu verurteilt ist, daß ihre Vertreter eine kleine Minderheit im Parlament darstellen und keinen Einfluß auf die Gesetzgebung haben.[1] Das ist ein himmelschreiendes Unrecht und eine

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[1] In der ersten Kurie wählen 5431 Großgrundbesitzer 85 Parlamentsabgeordnete, in der zweiten Kurie wählen 591 Kaufleute und Industrielle 21 Abgeordnete, in der dritten Kurie wählen 493804 Wähler aus der Stadtbevölkerung 118 Abgeordnete, in der vierten Kurie wählen 1 595 406 Wähler der Landbevölkerung 129 Abgeordnete, doch in der fünften Kurie der allgemeinen Stimmabgabe wählen 5 004 222 Wähler 72 Abgeordnete.

Auf diese Weise werden von 6022 Wählern aus dem reichen Adel und der Bourgeoisie zusammen (in den beiden ersten Kurien) 106 Abgeordnete gewählt, während mehr als 5 Millionen Wähler der fünften Kurie, deren Mehrheit Arbeiter sind, 72 Abgeordnete wählen! Die ersten vier Kurien zusammen, die 2 085 232 vermögende Wähler zählen, wählen 353 Abgeordnete, während 5 Millionen Wähler aus der fünften Kurie nur 72 wählen! Übrigens wird das österreichische Wahlgesetz, das der zaristischen Regierung sowohl in der ersten wie auch in der verbesserten Fassung des Bulyginschen Projekts als Vorbild diente, in Kürze eine Änderung erfahren. Unter dem Druck der stürmischen Arbeiterdemonstrationen in ganz Österreich und der Auswirkungen der russischen Revolution kündigte die Regierung schon im November 1905 die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts an. [Fußnote im Original]