Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 562

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nach zwei charakteristischen Proben zu urteilen, ist dies in einer ziemlich originellen Weise geschehen.

Nehmen wir z. B. die Wahlrede Daszynskis in Krakau vor einem hauptsächlich aus Eisenbahnbeamten zusammengesetzten Publikum, wo er sich über das Steckenpferd der Gegner, die Solidarität des Polenklubs, verbreitete. Weshalb tritt Daszynski nicht dem Polenklub bei? Dafür gibt es nach dem Bericht des Krakauer „Naprzód“ der Ursachen viele. Zuerst hatte es im Jahre 1896, als Daszynski gewählt wurde, mehrere blutige Metzeleien bei den Wahlen in Galizien gegeben, er konnte also unmöglich die blutbefleckte Hand eines Grafen Dzieduszycki und seiner Kumpane im Polenklub als Kollege drücken. In der zweiten Legislaturperiode stand der Kampf um das gleiche Wahlrecht im Vordergrund, der Schlachtschitzenklub war gegen das gleiche Wahlrecht, also war auch diesmal das Zusammenwirken unmöglich. Und jetzt, nachdem das allgemeine, gleiche Wahlrecht gesiegt hat? Jetzt liegen sich im Polenklub vier Parteien in den Haaren. „Sollten“, fragt Daszynski, „die Sozialisten dort eintreten, damit sich fünf statt vier Parteien in den Haaren liegen? Weshalb, zum Teufel, sollte ich in diesen Klub eintreten, in dem ein Kollege dem andern die Hand drückt und hinterdrein an die Zeitungen telegraphiert, jener sei ein Dieb? – Ist es euer Wunsch, daß ich dort jemand mit dem Stock auf den Kopf schlage oder daß ich selbst geschlagen werde?“ Und endlich, nachdem er die Knebelung der Abgeordneten durch den Polenklub geschildert hat sowie die Aussichtslosigkeit, dort Remedur zu schaffen, den Polenklub zur Vertretung des ganzen Volkes, der Reichen und der Armen zu machen, erklärt der Kandidat: „Wenn es einmal einen Polenklub gibt, der ein Bund aller Polen nur zu dem Zwecke ist, um die Rechte der Nation zu verteidigen, um die Unabhängigkeit Polens zu kämpfen – in einem solchen Polenklub würde ich auch mitarbeiten.“ Man muß gestehen, daß hier der Klassenstandpunkt der sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegenüber dem Polenklub ziemlich schleierhaft geblieben ist. Man stelle sich z. B. vor, daß die Sozialdemokratie in Deutschland die Frage untersucht, warum ihre Abgeordneten nicht in den Schwarz-Blauen Block[1] eintreten, und dies u. a. damit erklärt, daß es ja in diesem Block ohnehin Streit und Zank genug gebe. Abgesehen jedoch von der Oberflächlichkeit der Argumentation im ganzen, springt in die Augen das abgeschmackte Kokettieren mit der nationalistischen Phrase. Der Polenklub, für den die nationalistische Demagogie – wie für alle reaktionären Parteien in Polen – das Hauptmittel der systematischen Volksverdummung ist, ist dem Kandi-

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[1] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.