Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 561

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gerlichen und bäuerlichen Lande wie Galizien, wo unsre Partei auf Schritt und Tritt mit der Unentwickeltheit der sozialen Verhältnisse, mit der geistigen Rückständigkeit der Massen zu ringen hat.

Schließlich erklären aber solche äußeren Umstände nur die größere oder geringere Schwierigkeit, welche die Sozialdemokratie bei der Lösung ihrer Aufgaben zu bewältigen hat, sie können sie nie und nimmer von dieser Aufgabe selbst entbinden, soll die Klassenpartei des Proletariats ihrem eigentlichsten Wesen und ihren Zielen nicht untreu werden. In Galizien zumal befand sich die Sozialdemokratie diesmal in einer äußerst günstigen politischen Lage. Der Einzug des allgemeinen, gleichen Wahlrechts hat die parlamentarische Vertretung der besitzenden und herrschenden Klassen in Galizien dem politischen und moralischen Bankrott anheimgegeben. Solange das Kurienwahlrecht[1] den Wiener Polenklub[2] als unangreifbare Burg des Großgrundbesitzes, der Schlachtschitzenkaste vor Eindringlingen aus andern Gesellschaftsschichten schützte, konnte die in seinem Inneren gedeihende politische Korruption wenigstens einigermaßen vor der Außenwelt verschleiert, als eine interne „Familienangelegenheit“ behandelt werden. Das gleiche Wahlrecht hat diesen Ring der Schlachtschitzenwirtschaft insofern gesprengt, als es in den Polenklub auch noch Vertreter andrer, bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kreise hineinführte. Die nach außen geltende „Solidarität“ des Polenklubs wurde zum Hohn auf die inneren Gegensätze in seinem Schoße. Allein gerade die soziale Rückständigkeit der galizischen Verhältnisse und nicht zum mindesten die Angst vor der Sozialdemokratie haben es mit sich gebracht, daß diese Gegensätze nicht etwa in kulturellen Formen ernster Klassenkämpfe um politische Programme erschienen, sondern in einen ordinären Skandal persönlicher Katzbalgereien ausarteten, bei denen die „Watschen" sowie der Spazierstock das Hauptargument bilden und wo die Kämpfenden einander – allseits mit Recht – gemeinsten Schurkereien an den Kopf werfen. Der Polenklub arbeitete selbst in der letzten Zeit mit vereinten Fäusten an dem vollständigen moralischen Ruin der bürgerlichen Parteien Galiziens und ihrer Politik. Der Sozialdemokratie fiel die dankbare Aufgabe zu, dieser Welt der sozialen und geistigen Barbarei die Welt der proletarischen Kultur, dem wüsten Zank der Cliquen und Personen den ernsten Klassenkampf der Prinzipien und der politischen Ideale entgegenzustellen.

Wie hat sich unsre Partei in Galizien dieser Aufgabe entledigt? Um

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[1] Auf Grund der Streiks und Demonstrationen der österreichischen Arbeiterschaft für das allgemeine Wahlrecht sah sich die österreichische Regierung zu Zugeständnissen gezwungen. 1896 trat eine Wahlrechtsreform in Kraft, die auf einem von Ministerpräsidenten Eduard Taaffe 1893 vorgelegten Gesetzentwurf basierte. Zu den vier bestehenden Wählerklassen wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse (Kurie) eingeführt. Da für diese der Wahlzensus wegfiel, wurde ein größerer Kreis von Wählern erfaßt. Die Sozialdemokratie hatte erstmalig Gelegenheit, ihre Vertreter ins Parlament zu schicken. – In der ersten Kurie wählen 5 431 Großgrundbesitzer 85 Parlamentsabgeordnete, in der zweiten Kurie wählen 591 Kaufleute und Industrielle 21 Abgeordnete, in der dritten Kurie wählen 493 804 Wähler aus der Stadtbevölkerung 118 Abgeordnete, in der vierten Kurie wählen 1 595 406 Wähler der Landbevölkerung 129 Abgeordnete, doch in der fünften Kurie der allgemeinen Stimmabgabe wählen 5 004 222 Wähler 72 Abgeordnete.

[2] Im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrates hatten sich die politischen Gruppierungen in Klubs (Fraktionen) zusammengeschlossen. Der Polenklub wurde von den reaktionären polnischen Vertretern Galiziens gebildet und stand auf dem rechten Flügel des Abgeordnetenhauses.