Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 557

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die der Metallarbeiter, es mit großer Mehrheit ablehnt, die Agitation für die Maifeier kräftiger als bisher zu betreiben, so ergibt sich für die Partei die unabweisbare Pflicht, auf ihrer jährlichen Beratung mit Nachdruck wie in den früheren Jahren zum möglichst eifrigen Ausbau der Maifeier aufzufordern.

Endlich muß man nach der Prüfung der mageren Tagesordnung des Parteitags unwillkürlich ausrufen: Und der preußische Wahlrechtskampf?! Er stellt nach der bei uns allgemein vorherrschenden Auffassung keine preußische Angelegenheit dar, sondern bildet den Knotenpunkt der Reichspolitik, gehört also nach wie vor in die Beratungen der Gesamtpartei. Der Magdeburger Parteitag[1] hat die vom preußischen Parteitag[2] ausgegebene Parole zum Kampf auf der ganzen Linie aufgenommen und bestätigt. Was ist aber seitdem geschehen? Von gegnerischer Seite ist die Erklärung des Polizeiministers im Abgeordnetenhaus erfolgt, daß die Regierung an eine neue Vorlage in absehbarer Zeit gar nicht denkt, von unsrer Seite ist aber zur Beantwortung dieser Provokation nichts erfolgt. Die Kampagne des vergangenen Frühlings[3] ist an den Nagel gehängt worden, und die Pause dauert seitdem ein Jahr. In der jüngsten Zeit bot die elsaß-lothringische Verfassungsreform[4] einen trefflichen Anlaß zur Wiederaufnahme des Wahlrechtskampfes in Preußen. Die Zustimmung unsrer Fraktion zu jener Reform, die so viele reaktionäre Bestimmungen enthielt, ist ja wiederholt und mit Nachdruck damit entschuldigt worden, daß man in der Erringung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für die Reichslande eine neue starke Handhabe für den Kampf um das gleiche Wahlrecht in Preußen erblickte. Diese Handhabe kann aber unmöglich anders aufgefaßt werden denn als Ansporn und Agitationsmittel für uns selbst, um in den Massen wieder eine umfassende Bewegung für das preußische Wahlrecht zu entfachen. Daß die Tatsache der neuen Verfassung für Elsaß-Lothringen und ihr Kontrast mit den preußischen Zuständen, daß die Inkonsequenz selbst, in die sich ein Bethmann Hollweg damit verwickelt hat, etwa ohne weiteres einen Umschwung in der Situation Preußens herbeiführen, die Frage der Wahlrechtsreform aus der Versumpfung, in der sie steckt, herausreißen würde, das zu erhoffen wäre eine

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[1] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Magdeburg fand vom 18. bis 24. September 1910 statt.

[2] Der Parteitag der Sozialdemokratie Preußens fand vom 3. bis 5. Januar 1910 in Berlin statt.

[3] Seit Mitte Januar 1910 war es in allen Teilen Deutschlands ständig zu Massenbewegungen gekommen, auf denen Hunderttausende Demonstranten das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahre in Preußen gefordert hatten.

[4] Am 26. Mai 1911 waren im deutschen Reichstag die Verfassung von Elsaß-Lothringen und das Wahlgesetz für die Zweite Kammer des Landtages angenommen worden. Die eigene Landesverfassung Elsaß-Lothringens bedeutete einen Fortschritt, befriedigte jedoch nicht die Forderung der Bevölkerung nach Autonomie.