Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 540

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dem benachbarten Posen nicht mehr möglich ist, eine politische Versammlung für die polnische Bevölkerung abzuhalten, die man davon abhängig macht, ob zufällig ein Stellvertreter Gottes in Schutzmannsuniform da ist, der die Sprache des unterdrückten Volkes beherrscht. Und wie den Polen, so geht es den Italienern und allen anderssprachigen Arbeitern. Diese Bestimmung ist eine Spitze gegen das Proletariat, gegen die Sozialdemokratie, die man auf diese Weise hindern will, ihre Klassengenossen anderer Nationalitäten aufzuklären; man weiß, daß es gerade die deutschen Arbeiter sind, denen es gelingt, andere Nationalitäten für den Sozialismus zu gewinnen. Das famose Gesetz brachte die Vernichtung unserer Jugendorganisationen, und eine andere schöne Blüte ist der Majestätsbeleidigungsparagraph, den die Liberalen wesentlich „verbesserten“. Diese betrogenen Betrüger glaubten seine Anwendung an ganz besonders schwere Bedingungen zu knüpfen, wenn man das „Bewußtsein“ der Beleidigung fordere. Sie vergaßen, daß in Deutschland eine große Menschenschicht lebt, von der jeder Gendarm und jeder Schutzmann beschwört, daß sie das Bewußtsein der Beleidigung habe, ja, von der er sogar beschwört, daß sie wissentliche Meineide leiste. Früher konnte ein Majestätsbeleidiger wenigstens mit drei Monaten Gefängnis wegkommen, heute muß er seinen Frevel mit sechs Monaten büßen, und auch ich habe den Vorzug gehabt, den Segen dieses famosen Paragraphen am eigenen Leibe zu verspüren.[1] Nicht in Rußland, nicht in der Türkei sind solche erbärmlichen Zustände zu finden wie in dem großen Deutschen Reiche! (Pfuirufe.)

Glauben Sie, daß die Herren sich geändert haben? Was haben wir bei der Hottentottenwahl erlebt? Da gab es auch nicht einen Fortschrittler, der nicht ohne weiteres freudig einen Sozialdemokraten der Reaktion ausgeliefert hätte. Glauben Sie nicht, daß es heute anders ist. Erst im letzten März[2] schwenkte bei der Ersatzwahl in Gießen-Nidda der ganze nationalliberale Troß ins reaktionäre Lager ab, und da die Nationalliberalen nicht ausreichten, einem der dümmsten Antisemiten in den Sattel zu helfen, stürzte sich ein volles Drittel der „Fortschrittler“ zu seinen Gunsten in den Kampf. Und wollen Sie ein authentisches Beispiel für die Jämmerlichkeit der Liberalen haben, hier ist es: Herr Eickhoff äußerte kürzlich in einer Rede: „Unvergeßlich sind uns die Tage der Reichstags-

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[1] Am 16. Januar 1904 war Rosa Luxemburg von der Strafkammer des Landgerichts in Zwickau wegen ..Majestätsbeleidigung“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Vom 26. August bis 25. Oktober 1904 – sie wurde durch eine Amnestie vorzeitig entlassen – war sie im Zwickauer Landgerichtsgefängnis in Haft.

[2] In der Quelle: letzten Herbst.