Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 539

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liden, dabei müssen heute schon sogar invalide Kriegsteilnehmer jahrelang um wenige Pfennige Rente verzweifelt kämpfen. Eine besonders schöne Mode hat sich neuerdings bei dem Rentenquetschen eingebürgert, der Begriff der „Gewöhnung“. Man sagt dem Krüppel, er habe sich an den Verlust seiner Gliedmaßen gewöhnt.

Die Rednerin schildert den kürzlich von uns ausführlich berichteten Fall aus dem Kreise Ragnit, wo sich ein 18jähriges Mädchen an den Verlust ihrer beiden Beine „gewöhnt“ haben sollte, weshalb man ihr die Rente kürzte, und fährt fort: Besser wäre schon, der Arbeiter gewöhnte sich an den Verlust des Magens. (Lebhafte Zustimmung.)

Und wie sieht es mit dem Koalitionsrecht aus? Die Arbeiter haben dieses gesetzliche Recht, aber in letzter Zeit wird es immer mehr üblich, daß ein Polizist erscheint, den Arbeiter am Halse faßt, ihn ins Gefängnis bringt und ihn schließlich dem Staatsanwalt überliefert. Ich erinnere an die Fälle in Moabit[1], in Mannheim-Ludwigshafen[2], in Remscheid usw. Das zeigt, daß auch hier nicht etwa der Zufall waltet, daß man vielmehr ganz planmäßig danach strebt, den Arbeitern diese wichtige Waffe zur Erringung etwas besserer Lebensbedingungen aus der Hand zu reißen und zu zerschmettern. Man braucht ja nur die politischen Rechte der deutschen Arbeiter zu betrachten. Trotz der prächtigen Wahlrechtsdemonstrationen haben wir immer noch und nun schon seit 60 Jahren das elende Dreiklassenwahlrecht.[3] Wem verdanken wir diese unwürdigen Zustände? Der Clique der Junker und dem „frommen“ Zentrum, aber auch den Jammerlappen vom Fortschritt. Wenn man heute die liberalen Zeitungen liest, muß man staunen über den Löwenmut, mit dem die Herren auf den Schwarz-Blauen Block[4] schimpfen, aber was haben wir vor dem Schwarz-Blauen Block gehabt, als die Liberalen mit an der Herrschaft waren? Ihr Geschrei ist nichts als die Wut der Konkurrenz, daß statt ihrer das Zentrum den Nacken zum Fußschemel der Junkersippe hergeben darf. Die Herren sind nicht einen Deut besser. Besehen wir uns nur das famose Reichsvereinsgesetz[5], das mit ihrer Hilfe zustande kam und das sie als politische Großtat ersten Ranges preisen. Es hat dahin geführt, daß es in

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[1] Zwischen dem 19. September und 8. Oktober 1910 kam es zu den Moabiter Unruhen, die durch einen Lohnstreik von 140 Kohlenarbeitern und Kutschern der Firma Kupfer & Co. in Berlin-Moabit ausgelöst worden waren. Nach dem Einsatz von bewaffneten Streikbrechern und Polizeitruppen weitete sich der Kampf zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt aus, an der etwa 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Der Streik wurde gegen den Willen vieler Arbeiter vom Transportarbeiterverband abgebrochen. Bis Mitte Oktober fanden in vielen Orten Deutschlands Protestversammlungen gegen die Polizeiüberfälle in Moabit und gegen die hohen Gefängnisstrafen für einige verurteilte Arbeiter statt.

[2] Anfang April 1911 waren in Mannheim etwa 2 000 Hafen- und Transportarbeiter für höhere Löhne in den Ausstand getreten.

[3] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.

[4] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

[5] Das Reichsvereinsgesetz war am 8. April 1908 im Reichstag beschlossen worden. Es enthielt u. a. die Bestimmung, daß in allen öffentlichen Veranstaltungen nur die deutsche Sprache gebraucht werden dürfe, wodurch die Rechte der nationalen Minderheiten und der in Deutschland beschäftigten ausländischen Arbeiter stark eingeschränkt wurden. Es verbot Jugendlichen unter 18 Jahren den Beitritt zu politischen Vereinen und die Teilnahme an politischen Veranstaltungen.