Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 538

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wirtschaftliche Entwicklung nicht freuten, gibt sie doch Tausenden Brot zum Leben, ja, ich sage, wir sind die einzigen, die mit freudigen Gefühlen die rasche Entwicklung des Kapitalismus verfolgen, denn je rascher er sich entwickelt, um so rascher steuert er in jenen Graben, in dem er sich die Knochen zerschmettert! (Lebhaftes „Bravo!“) Aber als vernünftige Menschen sagen wir: Was hat der Militarismus mit dem Absatzgebiet zu tun? Hat schon eine Kanone unser Absatzgebiet erweitert? Jeder vernünftige Nationalökonom weiß, daß die Tüchtigkeit der Arbeiterklasse einem Lande das Absatzgebiet erobert. Darum wäre es vernünftig, daß man der deutschen Arbeiterklasse ein auskömmliches Leben verschaffte, darum wäre es vor allem vernünftig, unsere alte politische Grundforderung des Achtstundentags zu erfüllen, damit dem Arbeiter Muße bleibt, sich fortzubilden, seinen abgerackerten Körper zu erholen. Wenn man diese unsere Forderungen erfüllte, dann stände Deutschland an erster Stelle in der Welt! („Sehr richtig!“) Was sehen wir aber statt dessen? Zur Illustration, zum Beleg meiner Worte brauche ich nur auf die Reichsversicherungsordnung[1] zu verweisen. Schon die Art der Verhandlung dieser Vorlage bedeutet eine Schmach. Diese Vorlage mit ihren 1 700 Paragraphen hat man in einer so kurzen Zeit durchgepeitscht, die nicht einmal zum gründlichen Durchlesen genügen konnte. Sie hatten keine Zeit – handelte es sich doch nur um das Wohl von Tausenden deutscher Arbeiter. Merken Sie sich das: Viel geduldiger war der Reichstag 1902 bei Beratung des Zolltarifs. Da handelte es sich um den Profit von Junkern und Industrierittern, jetzt dagegen „nur“ um Witwen und Waisen. Und mit diesem Schandmal als Parole wollte gerade die Regierung in den Wahlkampf ziehen. Man denke nur an die brutale Verstümmelung des Selbstverwaltungsrechts! Merken Sie sich auch das: 1909 erklärten auf dem christlichen Gewerkschaftskongreß[2] sämtliche Vertreter der christlichen Gewerkschaften: Hinweg mit dem Ungeheuer! Und was erlebten wir? Im Reichstag stimmten die christlichen Gewerkschaftsführer mit dem Zentrum für das Schandgesetz. Und wer hat noch dafür gestimmt? 24 Fortschrittler, darunter der jetzige Vertreter von Königsberg, Herr Gyßling. (Stürmische Pfuirufe.) Diese schmachvolle Tatsache soll ihm am Wahltage auf die Stirne gebrannt werden! Man erzählte uns von der großen Wohltat für die Inva-

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[1] Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auch auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte der Werktätigen hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.

[2] Der siebente Kongreß christlicher Gewerkschaften fand vom 18. bis 21. Juli 1909 in Köln statt.