Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 536

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an eine Verwirklichung dieses vernünftigen Zustandes zu denken ist – nicht, solange wie eine Klasse die andere ausbeuten und knechten kann. Und gerade deshalb sind wir Sozialisten geworden, um Verhältnisse zu schaffen, in denen alle Menschen als Menschen leben. Aber zum Schutze des Vaterlandes ist es nicht nötig, daß die Völker verbluten, zum Schutze des Vaterlandes ist nicht nötig, die Blüte des Volkes unter der Fuchtel von Unteroffizieren zu urteils- und willenlosen Hunden zu degradieren. Und mit uns sind erste militärische Kapazitäten darin einig, daß das Vaterland viel besser geschützt ist, wenn man dem Volke die Waffen in die Hände gibt, wenn sie daheim am Herd stehen. Erst wenn die deutschen Arbeiter ihre Waffen in der eigenen Hand halten, wird das Wort volle Geltung haben: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Ich möchte den Feind sehen, der es sich beikommen ließe, einem so gerüsteten Volke gegenüberzutreten! (Stürmisches „Bravo!“)

Aber auch hier sind wir keine Phantasten, die in Wolkenkuckucksheim leben. Schauen Sie nur hin nach der Schweiz, dort nimmt jeder Bauersmann, jeder Arbeiter seine Flinte mit an den häuslichen Herd – und wer ist wohl sicherer als die kleine Schweiz! Nicht etwa, weil eine sogenannte Neutralitätserklärung besteht, o nein, denn schon im 13. Jahrhundert hat dieses kleine Volk beutelüsternen Feinden gründlich heimgeleuchtet.

Aber was liegt einem deutschen Machthaber ferner, als den Arbeitern Waffen in die Hand zu geben! Die sind dazu da, um auf seine Brust gesetzt zu werden. Was ging vor zwei Jahren im Mansfelder Gebiet vor? Es genügte diese Rebellion hungernder Sklaven, daß die Maschinengewehre aufgefahren wurden![1] (Lebhafte Pfuirufe.) Und was haben wir erlebt im vorigen Frühling, als das Volk in prächtigen Demonstrationen für ein freies Wahlrecht kämpfte? Am 6. März demonstrierten wir in Berlin; ich hatte das große Glück, jenen unvergeßlichen Moment mitzuerleben. Zuerst hatten wir beschlossen, den Treptower Park zu benutzen, doch gingen wir dann nach dem Tiergarten. Die Polizei, die auch Disziplin zu halten weiß, bloß nicht zur rechten Zeit, langweilte sich inzwischen im Treptower Park. Alt und jung, Mann und Weib waren wir da versammelt, und die Sonne schien schön leuchtend auf uns herab, als ob sie mit uns verbündet wäre. Brausend erklangen die Hochs aufs freie, gleiche,

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[1] Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10 000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren gestreikt. Um die Streikfront zu brechen und die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen, forderten die Unternehmer Militär an. In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1909 waren daraufhin einige Kompanien Infanterie in das Streikgebiet einmarschiert. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden.