Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 528

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der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland 1870? Da Bismarck zweifellos Frankreich in den Krieg planmäßig hineingetrieben hat, müßte nach der Jaurèsschen Formel der Krieg Napoleons III. als ein „gerechter“ erscheinen. Nach sozialistischer Auffassung hatte aber in diesem Kriege keine von den Parteien das Recht auf ihrer Seite, es war ein Ausfluß sowohl der verbrecherischen Politik Napoleons wie der Berechnungen und Pläne der Blut-und-Eisen-Politik Deutschlands. Diese Beispiele beweisen eben, daß man geschichtlichen Erscheinungen wie den modernen Kriegen mit der Elle der „Gerechtigkeit“ oder dem Papierschema von Verteidigung und Angriff nicht beikommen kann und daß sich in solche Zwirnsfäden keineswegs die materielle Macht großkapitalistischer Entwicklung, wohl aber die moralische Macht der sozialistischen Agitation selbst einfangen läßt.

Die Erklärung eines jeden Krieges, der nicht reiner Verteidigungskrieg ist, für „verbrecherisch" ist ein starkes Mittel gegen Kriege. Wie aber, wenn dieses Wort auf die heutigen Regierungen nicht den geringsten Eindruck ausüben wird? Jaurès weiß dagegen Rat im Artikel 17 seiner Gesetzesvorlage:

„Jede Regierung, die sich in einen Krieg stürzt, ohne öffentlich und loyal die Lösung des Konflikts durch ein Schiedsgericht vorzuschlagen, wird als Verräterin an Frankreich und an Menschen, als Feind des Vaterlandes und der Menschheit betrachtet. Jedes Parlament, das einem solchen Akt zustimmt, wird des Verrats schuldig und von Rechts wegen aufgelöst. Es wird verfassungsmäßige und nationale Pflicht der Bürger, diese Regierung zu zerschmettern und sie durch eine Regierung guten Glaubens zu ersetzen.“[1]

Da Jaurès selbst fühlt, daß auch die schrecklichsten Worte, wie „Verrat“ und „Verbrechen“, wenig Wirkung auf die Regierungen ausüben dürften, greift er zum Schluß selbst zur Tat und stellt in Aussicht die Insurrektion der Volksmasse gegen die kriegführende Regierung – in einer Gesetzesvorlage. So kommt am Ende auch in der optimistischen Utopie Jaurès’ die Tatsache zum Durchbruch, daß Krieg und Frieden nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen sind. Fragen der kapitalistischen Macht

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[1] „Jede Regierung, die einen Krieg unternimmt, ohne vorher öffentlich und loyal die schiedsgerichtliche Lösung des Konfliktes vorgeschlagen zu haben, ist als Verräter an Frankreich und den Menschen, als öffentlicher Feind des Vaterlandes und der Menschheit zu betrachten. Jedes Parlament, welches seine Zustimmung gibt, ist des Hochverrats schuldig und von Rechts wegen aufgelöst. Es ist die verfassungsmäßige und nationale Pflicht der Bürger, jene Regierung zu stürzen und sie durch eine gutgesinnte Regierung zu ersetzen, welche, indem sie den Schutz der nationalen Unabhängigkeit sichert, dem Gegner das Anerbieten macht, durch einen Schiedsspruch die Feindseligkeiten zu verhüten oder einzustellen.“ (Ebenda, S. 491 f.)