Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 527

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Weltpolitik samt ihren Kriegs- und Kolonialabenteuern mit einer fortschreitenden Ausschaltung der Parlamente von der Mitwirkung an der auswärtigen Politik Hand in Hand. Auch in dem republikanischen Frankreich wird die Volksvertretung in der Regel von der staatsmännischen Diplomatie und den Drahtziehereien machthabender Cliquen vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Projekt des Genossen Jaurès stellt aber keine Forderung, daß über Krieg und Frieden das Parlament entscheidet. Hingegen hat es ganz andere Garantien geschaffen, um Frankreich vor militaristischen Abenteuern und volksfeindlichen Unternehmungen in der auswärtigen Politik zu bewahren. Der Artikel 16 seines Projekts besagt:

„Die so organisierte Armee hat zum ausschließlichen Zwecke die Verteidigung der Unabhängigkeit und des Gebiets des Landes gegen jeden Angriff. Jeder Krieg ist verbrecherisch, wenn er nicht ausdrücklich ein Verteidigungskrieg ist, und es ist nicht ausdrücklich und unzweifelhaft ein Verteidigungskrieg, wenn die Regierung des Landes der fremden Regierung, mit der sie sich im Konflikt befindet, nicht vorgeschlagen hat, den Konflikt durch ein Schiedsgericht zu schlichten.“[1]

Hier haben wir wieder als Basis der ganzen politischen Orientierung jene famose Unterscheidung zwischen Verteidigungskriegen und Angriffskriegen, die früher eine große Rolle spielte in der auswärtigen Politik der sozialistischen Parteien, die aber – nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte – ruhig ad acta gelegt werden dürfte. Was ist in der Tat ein Verteidigungskrieg? Wer wird es übernehmen, mit Sicherheit von irgendeinem Kriege zu behaupten, er gehöre zu dieser oder zu jener Kategorie? Und wie leicht und einfach ist es für die Diplomatie eines Militärstaates, durch kleine Nücken und Tücken, durch Schachzüge einen schwachen Gegner zum Angriff gerade zu zwingen, wenn ihm selbst der Krieg erwünscht ist! Was waren die Napoleonischen Kriege, Angriffs- oder Verteidigungskriege? Vom Standpunkte der europäischen Feudalstaaten waren sie sicher Angriffskriege, vom Standpunkte Frankreichs aber waren sie Verteidigungskriege, denn sie waren notwendig, um das Werk der großen Revolution vor dem europäischen Ancien régime zu verteidigen. Und mochten sie formal und ihrem ganzen Vorgehen nach Angriffskriege sein, sie waren eine fortschrittliche und revolutionäre Erscheinung. Was war

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[1] Wahrscheinlich von Rosa Luxemburg übersetzt. In der 1913 erschienenen deutschen Ausgabe lautet der Text: „Die so zusammengesetzte Armee hat ausschließlich die Aufgabe, die Unabhängigkeit und das Gebiet des Staates zu schützen. Jeder Krieg ist verbrecherisch, der nicht unzweifelhaft ein Verteidigungskrieg ist; und das ist er, unzweideutig und gewiß nur dann, wenn die Staatsregierung der fremden Regierung, mit welcher sie in Konflikt gerät, zunächst die Beilegung des Konfliktes durch Schiedsspruch vorschlägt.“ (Jean Jaurès: Die neue Armee, Jena 1913, S. 491.)