Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 526

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freiem Felde und Manöver veranstalten. Gewerkschaften, Genossenschaften und sonstige Arbeiterorganisationen sollen aus eigenen Mitteln besonders befähigte Söhne ihrer Mitglieder zu Offizieren ausbilden u. dgl. Es erübrigt sich, zu bemerken, daß dieser Übereifer der patriotischen Pflichterfüllung eine Belastung der Kampforganisationen des Proletariats und eine Verquickung derselben mit vollständig wesensfremden Zielen und Aufgaben darstellt, die im Interesse des Klassenkampfes ganz entschieden abgelehnt werden müßte. An Stelle einer starken Verkürzung der militärischen Dienstzeit, die eine der wichtigsten Bestimmungen der Miliz im Programm der Sozialdemokratie darstellt, scheint bei dem Jaurèsschen Plan eher eine starke Verlängerung der Beschäftigung mit dem Kriegsdienst – allerdings nicht in der Kaserne – herauszuschauen. Die Idee der Volkswehr aber, wie sie vom sozialistischen Standpunkt verfochten wird, hängt besonders an zwei wesentlichen Bestimmungen, ohne die sie ihre Zwecke gar nicht erfüllen kann. Dahin gehört vor allem die Forderung, daß die Waffe jedem Wehrfähigen aus dem Volke ausgehändigt und von ihm in seiner Behausung aufbewahrt wird. Nicht aus Sparsamkeitsgründen in erster Linie fordern wir die Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres, nicht um die finanziellen Opfer loszuwerden, sondern um die Waffe des Militarismus, die jetzt bei Gelegenheit gegen den „inneren Feind“, d. h. die aufstrebende Arbeiterklasse und ihre Massenkämpfe, gerichtet wird, dieses Mißbrauchs zu entkleiden, sie allein zu Verteidigungszwecken gegen den äußeren Feind, aber auch nötigenfalls zur Schutzwehr der Volksmasse gegen Staatsstreichgelüste einer verräterischen Regierung verwendbar zu machen. Ohne die Auslieferung der Waffe an alle Wehrfähigen kommt also der wesentlichste Punkt der Volkswehr in Wegfall, und der Charakter dieses Heersystems wird von Grund aus verändert. Das Projekt Jaurès’ bietet nun in dieser Beziehung eine merkwürdige Absonderlichkeit: Er fordert ausdrücklich, daß die Waffe den Wehrfähigen der östlichen Departements, d. h. an der deutschen Grenze, ausgeliefert wird, nicht aber allen Wehrfähigen. Dadurch entkleidet er das ganze System seiner Volkswehr des wirklich demokratischen und proletarischen Charakters und gibt ihm dafür eine deutliche Spitze gegen Deutschland, die nichts anderes ist als eine bedauerliche Konzession an den herrschenden Geist der chauvinistischen kleinbürgerlichen Politik Frankreichs, die immer noch von dem Gespenst des Gegensatzes mit Deutschland beherrscht wird.

Eine ganz andere wesentliche Forderung unseres Programms im Zusammenhang mit dem Milizsystem ist die Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Geht doch der Zug der modernen

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