Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 523

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/523

Regenwürmer sind, was unsre Schatzgräber in der Regel finden. Für diese „Realpolitiker“ ist die nackte Tatsache genügend, daß überhaupt gewählt werden kann, um ohne weiteres die Notwendigkeit der eigenen Parteikandidatur zu folgern. So war nach S. in der „Kommunalen Praxis“ die Kandidatur Dr. Lindemanns „eine ganz selbstverständliche Konsequenz der demokratischen Bestimmung der schwäbischen Gemeindeordnung, wonach die Wahl der Stadtvorstände eine Angelegenheit der Gesamtbürgerschaft ist und in direkter Wahl erfolgt. Eine Partei, die das allgemeine Wahlrecht nicht als Spielzeug oder günstigenfalls als Mittel und Anlaß zur agitatorischen Betätigung betrachtet, muß ihre Konsequenzen ziehen oder abdanken. Ein Drittes gibt es nicht.“ Nicht das Amt also mit seinem konkreten Inhalt, seinem tatsächlichen und historisch gewordenen, aus den Verhältnissen des monarchischen Klassenstaates sich ergebenden Charakter ist maßgebend, auch nicht die Frage: Wie steht es mit der Mehrheit des Gemeinderats – lediglich das doktrinäre Prinzip des Wählens entscheidet. Wenn also der Papst durch die christliche Gemeinde wählbar wird, so müssen wir einen Parteikandidaten für den Stuhl des heiligen Petrus aufstellen. So deduzieren „Realpolitiker“, die sich über „Doktrinäre“ und „Theoretiker“ mokieren! Für den Genossen Kolb ist die Frage noch einfacher: Es bedarf überhaupt keiner Erwägungen. Ist die Aussicht auf einen Posten vorhanden, dann selbstverständlich zupacken, ohne jede andre Begründung als die alte Litanei: Ehemals hatte die Partei in ihrer Verblendung verschiedenes „negiert“, folglich muß sie heute einfach zu allem ja und Amen sagen. Ja, Kolb sieht direkt in der Stuttgarter Kandidatur ein blühendes Gegenstück zur glorreichen Großblocktaktik[1] und Budgetbewilligung in Baden[2] und erklärt als das Schreckenskind des Revisionismus ganz offen die schwersten Konflikte innerhalb der Partei im Gefolge des Oberbürgermeisteramts für unausbleiblich. Was selbstverständlicher, als daß er gerade diese Konflikte für das unumgängliche Mittel erklärt, um endlich die Fesseln der Parteigrundsätze und der Parteidisziplin zu sprengen, die ihm und seinesgleichen den ikarischen Flug in die Sonne der nationalliberalen Politik periodisch erschweren. Ebenso ist die Stuttgarter Kandidatur von der Chemnitzer „Volksstimme“, von der Breslauer „Volkswacht“, von der Magdeburger „Volksstimme“ als ein kühner Vorstoß des Revisionismus, als die Morgenröte einer „neuen Ära“ ausdrücklich gefeiert worden. Und die etwas vorzeitig abgefeuerten Vivatschüsse aus den Böllern des „Neckar-Echo“, die der

Nächste Seite »



[1] Mit der Begründung, den Konservativen und dem Zentrum eine „aktionsfähige Mehrheit" entgegenzustellen, hatten Sozialdemokraten im badischen Landtag mit den Nationalliberalen einen Block gebildet und aktiv die Politik der bürgerlichen Regierung unterstützt.

[2] Am 14. Juli 1910 hatte die Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Baden dem Budget zugestimmt. Auf dem Parteitag in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910 waren der Disziplinbruch und das prinzipienlose Verhalten der badischen Budgetbewilliger gegenüber dem Staat von der Mehrheit der Delegierten verurteilt und zum Teil ihr Ausschluß aus der Partei gefordert worden..