Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 502

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Die „Vereinigten Staaten Europas“ sind also eine Idee, die sowohl wirtschaftlich wie politisch dem Gang der Entwicklung direkt zuwiderläuft, von den Vorgängen des letzten Vierteljahrhunderts gar keine Notiz nimmt.

Daß eine mit der Entwicklungstendenz so wenig übereinstimmende Idee trotz aller radikalen Allüren im Grunde genommen keine fortschrittliche Losung abgeben kann, bewahrheitet sich auch an dem Einfall der „Vereinigten Staaten Europas“. Nicht von sozialdemokratischen Parteien, sondern von bürgerlicher Seite ist bis jetzt von Zeit zu Zeit die Idee eines europäischen Zusammenschlusses aufgeworfen worden.[1] Dies geschah aber jedesmal mit deutlicher reaktionärer Tendenz. Es war z. B. der bekannte Sozialistenfeind Prof. Julius Wolf, der die europäische Wirtschaftsgemeinschaft propagierte. Sie bedeutete aber nichts andres als eine Zollgemeinschaft zum handelspolitischen Kriege gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und ist auch so von sozialdemokratischer Seite aufgenommen und kritisiert worden. Und jedesmal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die „gelbe Gefahr“, gegen den „schwarzen Weltteil“, gegen die „minderwertigen Rassen“, kurz, es war stets eine imperialistische Mißgeburt.

Und wenn wir als Sozialdemokraten jetzt versuchen sollten, diesen alten Schlauch mit neuem, scheinbar revolutionärem Wein zu füllen, so muß man sagen, daß die Konsequenz jedenfalls nicht auf unsrer, sondern auf bürgerlicher Seite wäre. Die Dinge haben eben ihre eigene, objektive Logik. Und die Losung des europäischen Zusammenschlusses kann objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten. Der Chinafeldzug der vereinigten europäischen Regimenter mit dem Weltfeldmarschall Waldersee an der Spitze und dem Hunnenevangelium als Panier – das ist der wirkliche und phantastische, der einzig mögliche Ausdruck der „europäischen Staatenföderation“ in der heutigen Gesellschaft.

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[1] Hier ist unserer Genossin Luxemburg ein kleiner Gedächtnisfehler unterlaufen. Der Gedanke eines wirtschaftspolitischen Zusammenschlusses Europas, „um Europa später in der Weltkonkurrenz nicht vollkommen unter den Schlitten kommen zu lassen“, ist auch in der „Neuen Zeit“ ausführlich behandelt worden. Allerdings war es kein andrer als der damals noch sich zur Sozialdemokratie rechnende Herr Calwer, der im Jahre 1898 diesen Standpunkt vertrat und der damals erleben mußte, daß ihn die Redaktion der „Neuen Zeit“ derb abschüttelte. Siehe XVI. Jg., II. Bd., Heft 37 der „Neuen Zeit“. Die Red. der LV. – [Fußnote im Original]