Aber sind wir überhaupt noch mit den „Vereinigten Staaten Europas“ in der kapitalistischen Welt?
Das ist das Schwierige an der Sache. Einerseits handelt es sich um eine Staatenföderation „mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer“, also wohl um eine bürgerliche Schöpfung. Und Genosse Ledebour verlangt auch ausdrücklich von den Staatsmännern der heutigen Periode, daß sie im wohlverstandenen Interesse des Kapitalismus selbst diesen Zusammenschluß Europas vorbereiten. Anderseits aber, wenn wir nach den Verwirklichungsmöglichkeiten dieses Projekts fragen, sagt uns Genosse Kautsky, der einzige Weg dazu wäre – eine europäische Revolution. Nun ist, wie allgemein bekannt, heutzutage das Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie die einzige Klasse, die eine Revolution machen könnte. Die Verwirklichung der „Vereinigten Staaten Europas“, die als ein praktischer Weg zur Einschränkung des heutigen Militarismus vorgeschlagen werden, soll also einzig und allein durch den Sieg des revolutionären Proletariats, also nach der sozialen Revolution erst ermöglicht werden! Man weiß nicht, was an dieser Vorstellung mehr zu bewundern ist: die Herrschaft des sozialistischen Proletariats mit einer Bundesregierung und einem „Bundesheer“ oder die Aufforderung an die Staatsmänner der heutigen Periode, sie sollen „im wohlverstandenen Interesse des Kapitalismus selbst“ – die soziale Revolution vorbereiten.
Verrät somit die Idee des europäischen Staatenbundes selbst ihre utopische Natur durch dieses unsichere Schwanken zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt, so ist sie anderseits auch ganz unbrauchbar als Agitationslosung, zur konkreteren Vorstellung über die Grundlagen der proletarischen Politik. Die Idee der europäischen Kulturgemeinschaft ist der Gedankenwelt des klassenbewußten Proletariats völlig fremd. Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität, die sämtliche Weltteile, Rassen und Völker umfaßt, ist der Grundpfeiler des Sozialismus im Marxschen Sinne. Jede Teilsolidarität aber ist nicht eine Stufe zur Verwirklichung der echten Internationalität, sondern ihr Gegensatz, ihr Feind, eine Zweideutigkeit, unter der der Pferdefuß des nationalen Antagonismus hervorguckt. Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.
Unsre Agitatoren werden also wohl tun, bei der bevorstehenden Wahlkampagne von der so unverhofft und plötzlich hineingeworfenen Losung