Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 501

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verknüpft. Bei dem heutigen Entwicklungsstadium des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ist der Begriff von Europa als einem gesonderten Wirtschaftsganzen ein lebloses Hirngespinst. Europa bildet ebensowenig ein in sich zusammenhängendes besonderes Ganzes innerhalb der Weltwirtschaft wie Asien oder Amerika.

Ist die Idee des europäischen Zusammenschlusses wirtschaftlich längst überholt, so nicht minder politisch. Sie ist im Grunde genommen nur ein demokratisch aufgeputzter Abklatsch der Idee vom Konzert der europäischen Mächte, das als der bewegende Mittelpunkt, als die Zentralsonne des politischen Weltalls die Geschicke entschied. Die Zeiten aber, wo der Schwerpunkt der politischen Entwicklung und die Kristallisationsachse der kapitalistischen Gegensätze auf dem europäischen Kontinent lagen, sind längst vorbei. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und traditionell noch bis zur Märzrevolution lag der Mittelpunkt der internationalen Politik in dem Gebiet des aufgeteilten Polens, an der deutsch-russisch-österreichischen Grenze. In den fünfziger Jahren verschob er sich an den Bosporus. Die siebziger Jahre schufen mit dem Deutsch-Französischen Krieg einen neuen Schwerpunkt, um den sich der Zweibund und der Dreibund als die Pfeiler des europäischen Gleichgewichts gruppiert haben. Damals hätte die Utopie der europäischen Föderation wenigstens einen historischen Sinn gehabt. Mit den achtziger Jahren begann aber eine ganz neue Ära der internationalen Politik – es setzten die Kolonialeroberungen mit erneuter Wucht ein, denen in den neunziger Jahren der allgemeine Wettlauf der Weltpolitik um überseeische Einflußsphären, in dem letzten Jahrzehnt das allgemeine Erwachen des Orients folgte. Heute ist Europa nur ein Glied in der wirren Kette internationaler Zusammenhänge und Gegensätze. Und was das Entscheidende: Die europäischen Gegensätze selbst spielen jetzt gar nicht mehr auf dem europäischen Kontinent, sondern in sämtlichen Weltteilen und Ozeanen.

Nur wenn man plötzlich all diese Vorgänge und Verschiebungen aus den Augen verliert und sich in die seligen Zeiten des europäischen Konzerts zurückversetzt, kann man z. B. davon reden, daß wir seit 40 Jahren einen ununterbrochenen Frieden haben. Dieser Standpunkt, für den nur die Vorgänge auf dem europäischen Kontinent existieren, bemerkt gar nicht, daß wir gerade deshalb seit Jahrzehnten keinen Krieg in Europa haben, weil die internationalen Gegensätze über die engen Schranken des europäischen Kontinents ins ungemessene hinausgewachsen sind, weil europäische Fragen und Interessen jetzt auf dem Weltmeer und nicht in dem europäischen Krähwinkel ausgefochten werden.

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