Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 500

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gelenk geschaffenen Einfälle, die starke Züge eines Verlegenheitsprodukts an sich tragen, von der Tribüne des Parlaments offiziell im Namen der Gesamtpartei befürwortet werden. Es werden auf diese Weise nicht nur vor den bürgerlichen Gegnern, sondern auch in sozialistischen Kreisen im Auslande als Gedankenausdruck der deutschen Sozialdemokratie Ansichten vertreten, die schon, rein formal genommen, durchaus keinen Anspruch darauf erheben können.

So plausibel die Idee der Vereinigten Staaten Europas als einer Friedenskonvention auf den ersten Blick vielleicht manchem erscheinen mag, sie hat gleichwohl bei näherem Zusehen mit der Denkweise und den Standpunkten der Sozialdemokratie nicht das geringste zu tun.

Als Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung vertraten wir bis jetzt immer den Standpunkt, daß die modernen Staaten als politische Gebilde nicht künstliche Produkte einer schöpferischen Phantasie, wie z. B. das Herzogtum Warschau napoleonischen Angedenkens[1], sondern historische Produkte der wirtschaftlichen Entwicklung sind. Mag das Moment der dynastischen Interessen vom Mittelalter her die Grenzen und die Zusammensetzung der heutigen Staaten, wie z. B. der österreichisch-ungarischen Monarchie, noch sosehr bestimmend beeinflußt haben, die später hinzugetretene kapitalistische Entwicklung hat in dem losen Gemengsel von Ländern und Provinzen des Staates wirtschaftliche Zusammenhänge geschaffen, die gemeinsame Klassenherrschaft der Bourgeoisie hat den politischen Reifen um das Ganze gelegt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in ihrer jetzigen Gestalt als enormes Wirtschaftsgebiet und politische Macht gleichfalls das Produkt eines Jahrhunderts kapitalistischer Entwicklung innerhalb gemeinsamer Staatsgrenzen.

Welche wirtschaftliche Grundlage liegt aber der Idee einer europäischen Staatenföderation zugrunde? Europa ist wohl ein geographischer und in gewissen Grenzen ein kulturhistorischer Begriff. Die Vorstellung jedoch von Europa als einem Wirtschaftsganzen widerspricht zwiefach der kapitalistischen Entwicklung. Einerseits bestehen innerhalb Europas unter den kapitalistischen Staaten – und solange diese existieren – die heftigsten Konkurrenzkämpfe und Gegensätze, anderseits kommen die europäischen Staaten wirtschaftlich ohne die außereuropäischen Länder gar nicht mehr aus. Als Lieferanten der Lebensmittel, Rohstoffe und Fabrikate wie als Abnehmer derselben sind die übrigen Weltteile mit Europa tausendfältig

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[1] Am 22. Juli 1807 war durch Napoleon Bonaparte das Großherzogtum Warschau geschaffen worden. in dem eine eigene Verfassung deklariert, die Leibeigenschaft aufgehoben und der Code Napoléon eingeführt wurde. Dieses kleine, im Ergebnis des Tilsiter Friedensvertrages entstandene Territorium existierte bis 1815.