Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 494

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gen als eine Halbheit in ihrer Aussichtslosigkeit zu beleuchten und sie auf die Spitze zu treiben, dem Volke klar auseinanderzusetzen, daß der Militarismus mit der Kolonialpolitik, Zollpolitik, Weltpolitik aufs engste verknüpft ist, daß also die heutigen Staaten, wenn sie dem Wettrüsten ernstlich und aufrichtig ein Halt gebieten wollten, damit anfangen müßten, handelspolitisch abzurüsten, koloniale Raubzüge ebenso wie die Weltpolitik der Interessensphären in allen Weltteilen aufzugeben, mit einem Wort, in der äußeren wie der inneren Politik das direkte Gegenteil von dem tun, was das Wesen der heutigen Politik eines kapitalistischen Klassenstaats ist. Damit wäre klar zum Ausdruck gebracht, was den Kern der sozialdemokratischen Auffassung bildet: daß der Militarismus in seinen beiden Formen – als Krieg wie als bewaffneter Friede – ein legitimes Kind, ein logisches Ergebnis des Kapitalismus ist, das nur mit dem Kapitalismus zusammen überwunden werden kann, daß also, wer aufrichtig den Weltfrieden und die Befreiung von der furchtbaren Last der Rüstungen wolle, auch den Sozialismus wollen müsse. Nur auf diesem Wege läßt sich aus Anlaß der Abrüstungsdebatte wirklich sozialdemokratische Aufklärung und Werbearbeit leisten.

Diese Arbeit wird hingegen ziemlich erschwert, die Stellung der Sozialdemokratie wird unklar und schillernd, wenn durch eine seltsame Rollenverwechslung unsre Partei dem bürgerlichen Staate umgekehrt partout einzureden sucht, er könne sehr wohl die militärischen Rüstungen einschränken und den Frieden herbeiführen, und zwar von seinem eignen Standpunkte, dem eines kapitalistischen Klassenstaats. Freilich hat unsre Reichstagsfraktion bei der jüngsten Debatte durchaus nicht restlos die Möglichkeit einer völligen Abschaffung des Militarismus und der Kriege im Rahmen der bürgerlichen Ordnung zugegeben, Genosse Ledebour hat vielmehr kräftige Verwahrungen dagegen eingelegt. Aber gerade daraus ergab sich, daß der gleichzeitigen eifrigen Befürwortung einer teilweisen Abrüstung ein seltsamer Kompromißstandpunkt, der zwischen den beiden Standpunkten, dem der bürgerlichen Friedensapostel und dem der Sozialdemokratie, die Mitte hält, die völlige Überwindung des Militarismus in der heutigen Gesellschaft leugnet, eine teilweise aber für möglich hält, eine Friedensära mitten in der kapitalistischen Welt heraufziehen sieht und doch an der Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution festhält.

Es war bis jetzt der Stolz und die feste wissenschaftliche Basis unsrer Partei, daß wir sowohl die allgemeinen Programmdirektiven wie auch die Losungen unsrer praktischen Tagespolitik nicht aus freien Stücken als

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