Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 493

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aus bürgerlichen Kreisen glauben, daß sich Weltfriede und Abrüstung im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verwirklichen lassen, wir aber, die wir auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung und des wissenschaftlichen Sozialismus stehen, sind der Überzeugung, daß der Militarismus erst mit dem kapitalistischen Klassenstaate zusammen aus der Welt geschafft werden kann. Daraus ergibt sich auch die entgegengesetzte Taktik bei der Propagierung der Friedensidee. Die bürgerlichen Friedensfreunde sind bemüht – und das ist von ihrem Standpunkte ganz logisch und erklärlich –, allerlei „praktische“ Projekte zur allmählichen Eindämmung des Militarismus zu ersinnen, sowie sie naturgemäß geneigt sind, jedes äußere, scheinbare Anzeichen einer Tendenz zum Frieden für bare Münze zu nehmen, jede Äußerung der herrschenden Diplomatie nach dieser Richtung beim Wort zu fassen und zum Ausgangspunkt einer ernsten Aktion aufzubauschen. Die Sozialdemokratie kann umgekehrt hier, wie in allen Stücken der sozialen Kritik, ihren Beruf nur darin erblicken, die bürgerlichen Anläufe zur Eindämmung des Militarismus als jämmerliche Halbheiten, die Äußerungen in diesem Sinne, namentlich aus Regierungskreisen, als diplomatisches Schattenspiel zu entlarven und dem bürgerlichen Wort und Schein die rücksichtslose Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit entgegenzustellen. Dies war z. B. das Verhalten unsrer Partei auch der Haager Konferenz[1] gegenüber. Während sie von Opportunisten verschiedener Länder mit dem üblichen kleinbürgerlichen Optimismus als ein segensreicher Ansatz zum Weltfrieden gepriesen wurde – noch vor zwei Jahren hatte Genosse Treves im römischen Abgeordnetenhaus in einer schwungvollen Rede den Vorschlag gemacht, der Haager Konferenz zur Feier ihres zehnjährigen Jubiläums eine Ehrung darzubringen –, hat die deutsche Sozialdemokratie für die holde Schöpfung des Blutzaren und seiner europäischen Kollegen nur den verdienten Hohn als für ein dreistes Possenspiel übriggehabt.

Von demselben Standpunkt kann die Aufgabe der Sozialdemokratie gegenüber Kundgebungen in der Art derjenigen der englischen Regierung[2] nur die sein, die Idee einer teilweisen Einschränkung militärischer Rüstun-

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[1] Vom 15. Juni bis 18. Oktober 1907 hatte die Zweite Haager Konferenz stattgefunden, an der Vertreter aus 47 Ländern teilnahmen. Die imperialistischen Großmächte, besonders Deutschland, weigerten sich, ihre Kriegsrüstungen einzuschränken und ein Schiedsgericht zur Schlichtung internationaler Konflikte anzuerkennen. Es zeigte sich, daß alle an der Konferenz beteiligten Großmächte sich auf einen Weltkrieg vorbereiteten.

[2] Am 13. März 1911 hatte der britische Staatssekretär Sir Edward Grey im britischen Unterhaus über Möglichkeiten für ein Abkommen mit Deutschland gesprochen. Er empfahl, beide Länder sollten die militärischen Ausgaben einschränken und auf eine Steigerung der Flottenrüstung verzichten, um damit dem finanziellen Ruin entgegenzuwirken.