Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 479

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keine Gewerkschaftsorganisationen. Infolge der gewaltigen Massenstreikaktion, die wir im Jahre 1905 dort erlebt haben, wachsen sie wie Pilze aus der Erde in einem Gouvernement nach dem andern. Kräftige, junge Gewerkschaftsorganisationen. Dasselbe hat seinerzeit in Belgien stattgefunden. Bis zum Jahre 1886 gab es in Belgien keine Spur von Gewerkschaftsorganisation. Zuerst kam da ein Zeichen des allgemeinen Erwachens nach dem Sturm von Massenstreiks in den Eisenwerkstätten. Aus diesen Massenstreiks wurde einerseits geboren die politische Bewegung, der Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht und zugleich die erste Gewerkschaftsorganisation Belgiens. Und die jüngste Erfahrung zeigt uns nach dieser Hinsicht sehr lehrreiche Beispiele in Philadelphia in Amerika. Ich habe zwei Zeugnisse davon, die ich Ihnen vorlesen möchte, weil wir keinen besseren Beweis haben, wie befruchtend auf die Erstarkung der Gewerkschaftsorganisationen solche elementaren Massenstreiks wirken, als gerade das Beispiel von Philadelphia. Es war zu Beginn des Frühjahrs dieses Jahres, am 5. März, daß in Philadelphia den organisierten Trambahnangestellten gekündigt worden ist. Gerade weil sie organisiert waren. Zur Verteidigung ihrer Genossen erklärten sämtliche Trambahnangestellte und dann sämtliche Berufe dieser Stadt den Generalstreik. Der Generalstreik ist glänzend mit einem Siege beendet worden. Außerdem ergab sich seitdem ein gewaltiger Zuwachs an Gewerkschaftsorganisationen. So lesen wir z. B. in der deutsch-amerikanischen Bäckerzeitung, ehe der Generalstreik in Philadelphia zur Wirklichkeit wurde, waren dort kaum 350 Bäckereiarbeiter organisiert. Keine der großen Brotfabriken – und Philadelphia hat deren wie jede andere Großstadt eine ganze Anzahl – war organisiert, aber in dieser Massenversammlung war ein jeder Bäckereiarbeiter des größten Etablissements von Philadelphia anwesend, und dort erklärten sie, daß die Fabrik unionisiert werden müsse, ehe sie wieder an die Arbeit gehen würden. „Für unseren Verband ist jetzt die Stunde des Handelns gekommen, unsererseits darf nichts ungeschehen bleiben. Ein jeder zur Verfügung stehender Genosse mit organisatorischer Fähigkeit wird nach Philadelphia berufen werden, um dort unsern Genossen behilflich zu sein, um dort die Situation so gut wie möglich auszunutzen. Die Zeit ist da, und unsere Armee kann durch die Bäckereiarbeiter von Philadelphia einen gehörigen Zuwachs bekommen. Bis jetzt hat Philadelphia geschlafen. Brutal und plötzlich ist es aus seinem Schlaf aufgerüttelt worden. Das Proletariat von Philadelphia ist jetzt aufgebracht und voller Energie.“ Das bezieht sich auf einen Beruf, der mit der ursprünglichen Ursache des Streiks gar nichts zu tun hatte. Die Bäcker

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