Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 475

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Früchte des Kampfes betrogen. Und weshalb? Weil sie schon damals mehr das Volk fürchtete und haßte als die gesamte preußische Reaktion! Parteigenossen, seit jener Zeit erleben wir einen immer tieferen und tieferen Verfall des Liberalismus. Bemerken Sie folgende interessante Sache! Woher kommt die jetzige größte Reaktion innerhalb der liberalen Partei? Aus dem hiesigen westlichen Industriegebiet! Während im preußischen Wahlrechtskampf das Proletariat unter Führung der Sozialdemokratie die alten Schulden der bürgerlichen Liberalen zu bezahlen hat, um das gleiche, allgemeine Wahlrecht zu erkämpfen, um das uns die Väter unserer Liberalen 1848 bestohlen haben, kommt von den rheinisch-westfälischen Nationalliberalen die reaktionärste Strömung innerhalb des Nationalliberalismus. Nun gerade zeigt es sich, daß das gewaltige Kapital, das als Scharfmacher auftritt gegen die eigenen Arbeiter, zugleich das feste Bollwerk der Reaktion auch im politischen Leben ist. Und so sehen wir auf allen Gebieten – in der berühmten Finanzreform[1], der Hochschutzzollpolitik und den immer steigenden Ausgaben für Militarismus, in den weltpolitischen Abenteuern – einen gewaltigen Zug, daß wir sagen müssen, heutzutage bei der Verteidigung der Interessen der Freiheit, der Interessen der Demokratie steht das arbeitende Volk, steht die Sozialdemokratie ganz allein auf sich angewiesen. Sämtliche bürgerliche Parteien stehen uns in einem vereinten Lager der Reaktion gegenüber.

Daraus ergibt sich, Parteigenossen, daß auch auf politischem Gebiet jeder Schritt vorwärts, daß jedes politische Recht nicht anders als durch die arbeitenden Massen selbst in einer großen kühnen Aktion oder vielmehr in vielen langen Aktionen der Massen draußen auf der Straße erworben werden kann. Wir haben ja bisher schon manchen Schritt vorwärts getan, wir haben erlebt, Parteigenossen, in diesem Kampfe um das preußische Wahlrecht, daß die bestehende herrschende Ordnung auch vor brutalsten Eingriffen in unsere bürgerlichen Rechte nicht zurückschreckt, um uns den Sieg zu erschweren. Denken wir alle an das schöne Erlebnis, das wir am 6. März im Berliner Tiergarten hatten, wo wir, eine vieltausendköpfige Menge, ganz ruhig und friedlich in der Frühlingssonne standen und nichts anderes taten, als einmal über das andere zu rufen: „Das allgemeine, gleiche Wahlrecht lebe hoch!“ Da zeigte sich plötzlich auf dem Platz eine Truppe berittener Polizisten, die mit geschwungenen Säbeln wie eine wilde Horde auf uns losstürmten. Da zeigte es sich, wozu, zu wessen Sicherheit die Polizeisäbel getragen werden. Parteigenossen! Mit Ruhe und Gelassenheit können wir diese vergangene Geschichte er-

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[1] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.