Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 474

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Tatsache, daß wir bereits in Preußen einmal das allgemeine Wahlrecht hatten, um das man jetzt mit so vieler Mühe kämpfen muß. Diese Zeit, in der wir dieses Wahlrecht einmal erkämpft hatten, das war der 18. März 1848. Parteigenossen, erinnern Sie sich der Ereignisse, die damals in Deutschland stattfanden! Damals, an diesem denkwürdigen Tage, war das Volk von Berlin auf die Straßen gegangen. Es hat damals Barrikaden gebaut, es hat den Truppen des Königs Schlachten geliefert, es hat die Truppen geschlagen. Das Volk von Berlin hat am andern Tage, am 19. März, seine Toten erhoben, vor das Schloß des Königs getragen, und es hat den König Friedrich Wilhelm gezwungen, der einst das stolze Wort gesprochen hatte, daß er es nie dulden werde, daß zwischen ihn und seine Untertanen ein geschriebenes Blatt Papier, genannt Verfassung, sich schieben sollte – das Volk hat diesen stolzen Herren gezwungen, vor dem Volke, vor dem Feuer des Barrikadenkampfes das Haupt zu entblößen und den Siegern der Barrikaden das beschriebene Blatt Papier zu Füßen zu legen. Parteigenossen! Damals, auf diesem Blatt Papier, das ihr dem König abgetrotzt habt, stand das allgemeine Wahlrecht für alle Preußen, die das 20. Lebensjahr zurückgelegt hatten. Aber, werte Anwesende, die damalige Freiheit war eben noch ein Blatt Papier, und es galt, diese Freiheit ins Leben zu führen, und dazu war das damalige arbeitende Volk Preußens und Deutschlands noch nicht reif genug. Damals hatten wir noch nicht die gewaltige kapitalistische Entwicklung wie heutzutage und nicht die Arbeiter, das klassenbewußte Proletariat, sondern die liberale Bourgeoisie. Sie bekam die Macht in die Hände. Es waren gerade die Vertreter der damaligen Industrie in Westfalen und im Rheinland, die Herren Camphausen und Hansemann, die zu Ministern ernannt wurden nach dem Krach des 18. März 1848. Was hätte damals die liberale Bourgeoisie tun sollen dank dem Blutvergießen, dank den Lebensopfern des arbeitenden Volkes, wenn sie es mit ihrem politischen, mit ihrem liberalen Programm ernst meinte? Parteigenossen! Es ist klar, daß vor allem damals schon die liberale Bourgeoisie, als sie an die Macht gekommen war, wenn sie es mit ihrem Programm ernst meinte, als erste Sache die ganze vormärzliche vermorschte Staatsmaschinerie hätte zertrümmern, in ganz Deutschland die Republik hätte proklamieren sollen. („Bravo!“) Parteigenossen! Der bürgerliche Liberalismus von damals hat es nicht getan, er hat versäumt, die Freiheit, die frisch vom Volke erobert war, zu befestigen und zu sichern. Die Bourgeoisie hat im Gegenteil so schnell wie möglich hinter dem Rücken des Proletariats aus eigener Macht mit dem Thron und mit dem Feudalismus Frieden geschlossen und das Volk um die

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