Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 468

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arbeiter in Österreich, der zunächst, wie es den Anschein hatte, resultatlos verlief, der aber in der Folge durch die Umstimmung der öffentlichen Meinung und durch den Druck auf die Regierung und auf das Parlament den neunstündigen Arbeitstag für die Bergarbeiter erobert hat. Wir hatten 1903 den Massenstreik der Bergarbeiter in Frankreich, der im weiteren Verlauf für die französischen Bergarbeiter den achtstündigen Arbeitstag erobert hat. Wir hatten noch im Jahre 1902 in Belgien den großen Massenstreik, den politischen Streik, den Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Wir hatten 1904, gerade zu Beginn, im Januar, den gewaltigen Generalstreik der holländischen Eisenbahner, der den kolossalsten Eindruck auf die Welt gemacht hat und der die unerhörte Kunde verbreitet hat, daß plötzlich in Holland der ganze Verkehr und damit das ganze wirtschaftliche Leben lahmgelegt wurde, und der erst durch den Willen einer bestimmten Kategorie von Arbeitern zum Stillstand gebracht werden konnte. Und dann, Parteigenossen, kam das Jahr 1905. Im Januar des Jahres 1905 kam nach Europa eine Kunde, die wie aus einem Märchenlande lautete. Das war die Kunde, daß in der nördlichen Hauptstadt des Zaren aller Reußen – in Petersburg – plötzlich 100 000 bis 200 000 Proletarier den Massenstreik erklärt haben und zugleich sich vor das Schloß begeben haben, um politische Freiheit und den Achtstundentag zu fordern. Nun, Parteigenossen, seit jenem Tag verging kein Monat, ja kein Tag, da nicht in Rußland lokale Generalstreiks und Massenstreiks ausbrachen. In einem Lande, von dem bisher angenommen wurde, daß es überhaupt eine Ausnahme der alten Kulturländer darstellt. In einem Lande, von dem man annahm, daß die Gesetze der historischen Entwicklung ohnmächtig an seinen Grenzen, an seiner Schwelle zusammenbrechen, in einem Lande, nach welchem die Machthaber aus Deutschland und speziell aus Preußen mit Sehnsucht hinblickten, weil sie glaubten, dort sei der einzige Landesvater, dem seine Landeskinder so gar keine Sorge machten. Parteigenossen! In diesem Lande erhob sich zuerst eine gewaltige Masse von Proletariern und gebrauchte das Werkzeug des Massenstreiks, die Waffe des Massenstreiks, des politischen und gewerkschaftlichen zugleich, zum Kampfe gegen die Ausbeuterklasse und zur Eroberung der politischen Freiheit. Und als ein lebhaftes Echo, als ein Nachhall dieser Sturmperiode hatten wir im Herbst in Österreich eine Reihe gewaltiger Massenstreiks als Demonstration und Kampfmittel für das allgemeine Wahlrecht zum Reichsrat und zu den einzelnen Landtagen in Böhmen, Galizien und Triest. Im Jahre 1905 gleichfalls hatten wir in Italien den kolossalen Streik der Eisenbahner, in Galizien den Massenstreik von 200 000 Landarbei-

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