Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 467

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lismus gespalten war durch den großen Hader wegen des Eintritts eines Sozialisten in das bürgerliche Ministerium. Damals, auf dem Sozialistischen Kongreß in Paris, trat gerade ein Herr auf mit Namen Aristide Briand. Es ist derselbe Herr, der jetzt als Ministerpräsident in Frankreich die bürgerliche Regierung vertritt und womöglich die Sozialisten und organisierten Arbeiter verfolgt, schlimmer als jeder andere bürgerliche Minister. Dieser Herr war im Jahre 1900 noch kein Minister, sondern ein enragierter, verbissener Anhänger der Idee des Generalstreiks. Und ich habe in Paris seine dröhnende Rede anhören müssen, in der er uns und alle Marxisten beschimpfte als ganz rückständige Vertreter des Sozialismus, die nicht an die wahre, einzig befreiende Kunst des Generalstreiks glauben wollen. Parteigenossen und werte Anwesende! Wie gesagt, die Sozialisten, die auf dem Boden des Marxismus stehen, die Gewerkschaftler, die es mit der Gewerkschaftsorganisation ernst meinen, haben alle für diese Idee entweder ein mitleidiges Lächeln oder ein entrüstetes Achselzucken gehabt. Und mit Recht, denn was stellte sich heraus? Gerade in den Ländern, wo die Idee von der weltbefreienden Losung des Generalstreiks als des einzigen Mittels, von heute auf morgen aus der Hölle des Kapitalismus herauszukommen, gerade wo diese Idee grassierte, da lagen die Arbeiterorganisationen gänzlich danieder und sind bis auf den heutigen Tag noch die schwächsten aller Länder. Und nun war es einer von der deutschen Sozialdemokratie, unser alter, leider verstorbener, unvergessener Ignaz Auer[1] („Bravo!“), der mit seiner Kunst, scharfe epigrammatische Schlagworte zu prägen, mit zwei Worten die Lieblingsidee des Anarchismus abgetan hatte, indem er klipp und kurz erklärte: „Generalstreik – Generalunsinn.“

Parteigenossen! So standen die Dinge noch vor kurzem, und was sehen wir heutzutage? Blicken wir auf die bloßen Tatsachen hin, auf die Ergebnisse des letzten Jahrzehnts, auf die Jahre 1900 bis jetzt, blicken wir auf alle die Länder der kapitalistischen Entwicklung, so müssen wir konstatieren, daß in einem Lande nach dem andern, in einem Jahre nach dem andern die gewaltigen Generalstreiks und Massenstreiks ausbrechen. Parteigenossen! Ich will Ihnen nur noch einige der wichtigsten in Erinnerung rufen. Im Jahre 1900 hatten wir den gewaltigen Bergarbeiterstreik der Bergarbeiter in Pennsylvania, von dem die amerikanischen Parteigenossen behaupteten und erklärten, er habe für die Ausbreitung des sozialistischen Klassenbewußtseins mehr getan, als 10 Jahre Agitation es sonst tun. Im Jahre 1902 hatten wir den großen Massenstreik der Berg-

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[1] Ignaz Auer, Mitglied des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie, war am 10. April 1907 in Berlin verstorben.