Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 466

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Das erste Gebot für politische Kämpfer, wie wir es sind, ist es, mit der Entwicklung der Zeit zu gehen und sich jederzeit Rechenschaft abzulegen über die Veränderung in der modernen Welt wie auch über eine Veränderung unserer Kampfstrategie. Parteigenossen und werte Anwesende! In der Geschichte der Idee vom Massenstreik hat sich das ewige Gesetz der geschichtlichen Entwicklung in glänzender und schlagender Weise bestätigt. Sie wissen alle wohl, daß die Idee des Massenstreiks oder, wie er früher hieß, Generalstreiks keine Erfindung der letzten Tage oder Jahre ist. Im Gegenteil, schon seit Jahrzehnten gab es Leute, die es zu ihrer Spezialität, zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten, die Idee des Generalstreiks zu propagieren. Das waren die Anarchisten, namentlich die französischen und holländischen und andere. Sie werden ihn alle kennen, den Domela Nieuwenhuis[1], der sich besonders hervorgetan hat durch die Propaganda der Idee des Generalstreiks auf internationalen sozialistischen Kongressen. Sie werden alle wissen, daß namentlich in den romanischen Ländern, in Spanien, in Frankreich, ganz große Abteilungen der Gewerkschaften, die sogenannten Syndikalisten, den Generalstreik als die rettende und einigende Idee betrachten und propagieren. Und wir haben alle früher gesehen, daß diejenigen Arbeiter, die auf dem Boden des modernen wissenschaftlichen Sozialismus stehen, daß diejenigen Arbeiter, die die Notwendigkeit und die Wichtigkeit der Gewerkschaftsorganisation und des Kampfes begriffen haben, daß sie sich mit aller Energie gegen die Idee des Generalstreiks, wie sie von den Anarchisten propagiert wurde, gewehrt haben. Und das mit vollkommenem Recht. Parteigenossen! Der sozialistische internationale Kongreß in Brüssel 1891[2] wie der Kongreß in Zürich 1893[3] haben mit überwältigender Mehrheit der Vertreter der Arbeiterschaft aus allen Ländern die Idee des Domela Nieuwenhuis und seiner Freunde abgelehnt. In Frankreich haben wir ein interessantes Kapitel aus dieser Schwärmerei von dem Generalstreik noch neulich erlebt. Ich hatte selbst das Vergnügen, im Jahre 1900 an dem Internationalen Sozialistischen Kongreß in Paris[4] teilzunehmen. Und Sie erinnern sich, wie stark damals, in der sogenannten Millerand-Krise[5], der französische Sozia-

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[1] Unter Führung des niederländischen Sozialdemokraten Domela Nieuwenhuis trat in der internationalen Arbeiterbewegung eine halbanarchistische Gruppe mit der Forderung auf, das Proletariat solle auf jede Kriegserklärung mit einem Generalstreik antworten und den Wehrdienst verweigern. Auf dem Internationalen Arbeiterkongreß in Brüssel im August 1891 waren diese Auffassungen von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten abgelehnt worden.

[2] Der Internationale Arbeiterkongreß in Brüssel fand vom 16. bis 22. August 1891 statt.

[3] Der Internationale sozialistische Arbeiterkongreß in Zürich fand vom 6. bis 12. August 1893 statt.

[4] Der Internationale Sozialistenkongreß in Paris fand vom 23. bis 27. September 1900 statt.

[5] Der französische Sozialist Alexandre-Etienne Millerand war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser Schritt führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären und reformerischen Kräften.