Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 469

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tern, derjenigen Kategorie, die im tiefsten Elend, in der tiefsten Erniedrigung lebt. Seitdem vergeht kein Jahr ohne einen gewaltigen Massenstreik in diesem oder jenem Lande. Im vergangenen Jahre, 1909, hatten wir den unvergessenen Generalstreik in Schweden, der Ihnen allen in frischer Erinnerung ist. In diesem Moment, in diesem Jahre hatten wir – ich werde Ihnen das, was Sie selbst erlebt haben, nicht in Erinnerung zu rufen brauchen – in Amerika zwei glänzend durchgeführte und siegreiche Massenstreiks. Der erste begann im März und endete im April, das war der Massenstreik in Philadelphia, der zweite, jüngst erst beendete war der Generalstreik von 70 000 männlichen und weiblichen Arbeitern der Frauenbekleidungsindustrie in New York, die es durchgesetzt haben, daß in der ganzen Branche in sämtlichen Werkstätten nur das als Gesetz gilt, was die Gewerkschaft der Arbeiter bestimmt. („Bravo!“) Parteigenossen! Das ist sozusagen ein kurzer Überblick über die nackten Tatsachen der Geschichte des Massenstreiks des letzten Jahrzehnts. Und es genügt, diese Tatsachen festzustellen, um daraus den Schluß zu ziehen: Es hat sich in den Bedingungen der Verwirklichung des Massenstreiks Gewaltiges verändert in der letzten Zeit. Haben wir denn einen Grund anzunehmen oder zu denken, daß alle diese Massenstreiks und Generalstreiks, die ich Ihnen aufgezählt habe, sozusagen ein verspäteter Triumph der anarchistischen Idee seien? Nein, durchaus nicht, werte Anwesende, durchaus sind es nicht die Anarchisten, die einen Grund zum Triumphieren haben und einen Grund, uns darauf hinzuweisen, daß wir sozusagen mit Verspätung darauf gekommen sind. Merken Sie sich wohl, daß gerade in allen den Ländern, wo die wirksamsten und machtvollsten Massenstreiks in der letzten Zeit zustande gekommen sind, daß dort der Anarchismus gänzlich ausgestorben ist, und merken Sie sich die interessante Tatsache, daß während der russischen Revolution in jenem Lande, wo der Massenstreik als politisches Kampfmittel gewissermaßen aus der Taufe gehoben ist, gewissermaßen als epochemachendes, glänzendes Beispiel angewandt worden ist, daß in diesem Lande, das außerdem die Wiege des bekannten Theoretikers und Anarchisten Michael Bakunin ist, mit dem noch Marx und Engels in der Internationale heftige Kämpfe führen mußten – daß in Rußland selbst während der ganzen großen Revolution der Anarchismus nicht nur keine Rolle gespielt hat, sondern daß er gänzlich heruntergestampft worden ist von den siegreichen Scharen des organisierten Proletariats. („Bravo!“) Denn, Parteigenossen, diese Tatsache muß doch geschichtlich hervorgehoben werden: Die einzige Form, in der sich der Name des Anarchismus dieser Schablone in der russischen Revolution erblicken ließ, das war als

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