Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 454

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Lebensdauer wird das neue Schulgesetz wohl kaum rechnen können.“ („Hört! Hört!“)

Wenn Ihr mit dieser Beurteilung unzufrieden seid, so setzt Euch auseinander mit Euren eigenen Kollegen aus dem Landtage. So sieht die glänzendste von den Errungenschaften der praktischen Politik im badischen Landtag in der eigenen Beleuchtung eines Anhängers dieser Politik aus. Die zweite große Errungenschaft, auf die hier hauptsächlich gepocht wurde, ist das neue Gemeindewahlgesetz[1]. Zu dieser Errungenschaft ist mir auch ein interessanter Kommentar wiederum von einem Landtagsabgeordneten der Mehrheit gegeben worden. In einer meiner Versammlungen in Wiesenthal trat der Genosse Adolf Müller, einer von den Budgetbewilligern, in einer anderthalbstündigen Rede gegen mich auf und sagte unter anderem: Ja, ihr wollt spotten, daß wir es als eine große Errungenschaft betrachten, daß wir jetzt die Sechstelung statt der Zwölftelung bekommen haben, ihr kennt eben unsere badischen Verhältnisse nicht, wir sind schon jetzt nicht in der Lage, dieses neue Wahlgesetz wirklich auszunutzen, und zwar sind wir deshalb dazu nicht in der Lage, weil wir nicht die nötige Zahl von wirtschaftlich unabhängigen Leuten als Kandidaten aufstellen können. („Hört! Hört!“) Denn, so sagte Müller, es genügt, daß wir einen Proletarier als Kandidaten zum Gemeinderat aufstellen, damit er sofort aus seiner Brotstelle fliegt. („Hört! Hört!“) Das sind die besonderen politischen Verhältnisse Badens. Und wer läßt denn die Proletarier aus der Brotstelle fliegen? Stellen Sie mal die Frage in Wiesenthal vor den ausgemergelten Textilarbeitern! Die werden Ihnen antworten, das sind unsere Blockbrüder: die Nationalliberalen. (Stürmisches „Sehr gut!“ bei der Mehrheit.) Ja, so sehen die besonderen Verhältnisse aus, wenn man sie näher betrachtet. Nun aber die Hauptfrage. Selbst wenn wir davon absehen wollen, daß die tatsächlichen Errungenschaften der praktischen Politik in Baden auf lauter krampfhaft aufgebauschte Lappalien hinauslaufen, ja selbst wenn wir annehmen wollen, es seien epochemachende Werke, so bleibt doch die Frage bestehen: Was hat das alles mit der Budgetbewilligung zu tun? („Sehr richtig!“) Hing denn das Schicksal irgendeines dieser epochemachenden Gesetze von Eurer Schlußabstimmung zum Budget ab? Diese Frage werdet Ihr nicht zu bejahen wagen. (Lachen bei der Minderheit.) Auch die Frage werdet Ihr nicht bejahen können, ob denn auch nur das Zustandekommen des Budgets von Eurer Zustimmung abhing. Nein, durch die Zustimmung unserer Genossen ist nur erreicht worden, daß das Budget einstimmig angenommen

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[1] Gegen eine Reform des Gemeindewahlrechts in Baden 1910, die lediglich so unwesentliche Veränderungen wie die Herabsetzung des Wahlalters von 26 auf 25 Jahre vorsah, am reaktionären Charakter des Wahlrechts aber nichts änderte, hatte die sozialdemokratische Landtagsfraktion nicht protestiert, sondern im Landtag sogar für die Annahme gestimmt.