Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 441

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sen in Berlin, die auf eine Weiterführung der Kampagne brannten, keine Parteigenossen, oder liegen alle diese Städte nicht in Preußen?

Die Frage des Wahlrechtskampfes und der in ihr anzuwendenden Taktik ist hochbedeutsam. Da es sich hier um Massenaktionen, um außerparlamentarische Formen des Kampfes handelt, so steht die Partei zum Teil vor ganz neuen taktischen Aufgaben. Sie allseitig zu diskutieren, das Problem, das bei der nächsten Wiederaufnahme der Wahlrechtsbewegung von neuem vor uns erstehen wird, auf Grund der Erfahrungen, der Analyse der jüngst vergangenen Kämpfe zu klären und dadurch die Massen und ihr Bewußtsein für die Zukunft vorzubereiten, das ist offenbar eine unumgängliche Notwendigkeit im Interesse der Partei. Glaubt der „Vorwärts“ dem Interesse der Partei und ihrer Zukunft zu dienen, wenn er, nachdem er die ganze Diskussion lange totgeschwiegen, sie nun zum rein persönlichen Streit verzerrt, und, anstatt seine Leser über all die ernsten Seiten des Problems zu informieren, zum Denken anzuregen, als den einzigen Beitrag aus Eignern ein — mit Verlaub zu sagen — ohnmächtig-gehässiges Gebelfer voller Verdrehungen des Tatbestands gegen mich bringt, alle Fragen der Taktik aber mit einem Delirium der Freude über unsre jetzigen und künftigen Reichstagswahlsiege betäuben will? Glaubt der „Vorwärts“ im Ernst, daß der geistigen Vertiefung der breiten Parteikreise mit dieser ewigen Hurrastimmung über Reichstagswahlsiege schon ein, vielleicht anderthalb Jahre vor den Reichstagswahlen[1] sowie durch Erstickung aller Selbstkritik in der Partei ein Dienst erwiesen wird?

Vor allem bewundere ich aber die Kurzsichtigkeit des „Vorwärts“. Wir sehen, daß wir die Paroxismen des Opportunismus, wie der jüngste badische Vorstoß beweist, seit einem Dutzend von Jahren nicht loswerden. Es ist eine leichtsinnige Selbsttäuschung, diese Symptome durch bloße „Verbote“, auf dem einzigen Wege der „Disziplin“ aus der Welt schaffen zu wollen. Zwölfjährige Erfahrung muß jedem ernstlich Denkenden beweisen, daß die Partei dem Opportunismus gegenüber aus der bloßen Defensive in die Offensive übergehen, ihm systematisch entgegenarbeiten, gegen ihn den Acheron – die große Masse der Proletarier – in Bewegung setzen muß. Dämmert es da dem „Vorwärts“ nicht, daß die Frage der Taktik in der preußischen Wahlrechtsbewegung doch in einigem inneren Zusammenhang mit der Frage des badischen Prinzipienverrats steht? Das heißt, begreift er denn nicht, daß eins der sichersten Mittel, die schleichenden Dünste des parlamentarisch-reformistisch-partikularistischen Kretinismus zu verscheuchen, große Massenaktionen sind, die die eigent-

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.