Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 431

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heit gebührend in den Vordergrund gestellt, wäre in den breitesten Parteikreisen durch systematische Agitation das Bewußtsein geschärft worden, daß ein Sozialdemokrat zugleich grundsätzlich Republikaner ist, dann hätte eine so eklatante Selbsterniedrigung wie die in Baden unmöglich vorkommen können, oder sie hätte anders einen Entrüstungssturm im eigenen badischen Lager hervorrufen müssen. Die republikanische Agitation wird aber seit Jahrzehnten bei uns völlig vernachlässigt. Aus einem so dringenden Anlaß z. B„ wie bei der Krise, die an der „Daily-Telegraph“-Affäre[1] anknüpfte, hat unsre Partei im Reichstag nicht mit einer Silbe die republikanische Losung vertreten, sie ist nicht über die freisinnige Losung der Ministerverantwortlichkeit hinausgegangen. Aus Anlaß der jüngsten Erhöhung der Zivilliste[2] ist gleichfalls nichts für die Verbreitung republikanischer Grundsätze getan worden. Was Wunder, wenn eine ganze Generation von Parteigenossen, die nicht mehr den scharfen Wind des Sozialistengesetzes zu spüren bekam, seitdem aufgewachsen ist, ohne sich überhaupt um den republikanischen Charakter unsrer Partei zu kümmern. Die übliche Phrase von der „Selbstverständlichkeit“ des republikanischen Bekenntnisses für jeden Sozialdemokraten war uns in dieser ganzen Zeit nichts als eine bequeme Ausrede. Die Feindschaft gegen den Militarismus ist nicht minder „selbstverständlich“ für jeden Sozialdemokraten, und doch widmen wir jahrein, jahraus Tausende von Versammlungen, Zeitungsartikeln und Flugschriften der Aufgabe, diese „Selbstverständlichkeit“ den Volksmassen zum Bewußtsein zu bringen. Für die republikanische „Selbstverständlichkeit“ haben wir bis jetzt rein gar nichts getan, und so erleben wir, daß einem ganzen Teil der Parteimasse im Süden heute „selbstverständlich“ erscheint, wenn Sozialdemokraten im Vorzimmer des großherzoglich badischen Hofes Kratzfüße machen.

Die zweite Wurzel der badischen Seitensprünge liegt in der Oberschätzung des Parlamentarismus, dem die Rücksichten auf die Massenagitation geopfert werden. Hat nun die Partei nicht auch ihre Sünden in bezug auf die Großziehung des parlamentarischen Kretinismus auf dem Gewissen, nur daß dieses im Zusammenhang mit den Reichstagswahlen betätigt wird? Erleben wir nicht gerade im Moment ein merkwürdiges

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[1] Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung „Daily Telegraph“ ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden, das erhebliches Aufsehen erregte. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen. In vielen Städten Deutschlands kam es zu Protestversammlungen und im Reichstag zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Affäre offenbarte die Brüchigkeit des bürokratisch-halbfeudalen Regierungssystems in Deutschland und zeigte, daß große Teile des deutschen Volkes mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden waren.

[2] Am 9. Juni 1910 war im preußischen Abgeordnetenhaus gegen die Stimmen der Sozialdemokraten der Gesetzentwurf über die Erhöhung der Krondotation angenommen worden. Die Vorlage brachte für den preußischen Hof eine zusätzliche Bewilligung von 3.5 Millionen, so daß ihm jährlich insgesamt 19,2 Millionen Mark aus staatlichen Mitteln zur Verfügung gestellt werden mußten.