Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 430

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und abstellen will. Bei den Frank und Kolb mögen bewußter Disziplinbruch und bewußte Provokation der Gesamtpartei vorliegen – den biederen Genossen in Neckarau, Bruchsal, Furtwangen, Sulzfeld und Karlsruhe liegt sicher jede Provokation fern. Aus ihrer uneingeschränkten Zustimmung zu der Budgetabstimmung der Landtagsfraktion spricht etwas viel Betrübenderes als alle „Disziplinbrüche“: eine Auffassung, die kleinbürgerliche Reformpolitik mit sozialdemokratischem Klassenkampf verwechselt.

Deshalb wäre die Frage mit dem Ausschluß der badischen Fraktion aus der Partei leider nicht gelöst. Wir können nicht die Landtagsabgeordneten ausschließen, die hinter ihnen stehenden Parteiorganisationen aber, die ihnen volle Zustimmung ausdrücken, ignorieren. Zweierlei Recht für Parlamentarier und einfache Genossen können wir auch nicht in diesem umgekehrten Sinne brauchen, daß wir den Arbeitern hingehen lassen, was wir bei ihren Mandataren bestrafen. Die Tausende badischer Genossen aber und dazu noch die vielen sonstigen süddeutschen Genossen, die ihnen zustimmen, können wir nicht aus der Partei ausschließen. Eine Spaltung in norddeutsche und süddeutsche Sozialdemokratie können wir nicht aus dem vorliegenden Anlaß selbst vollziehen. Und zwar nicht etwa deshalb [nicht], weil wir „vor den Reichstagswahlen stehen“[1] oder deshalb, weil wir vor der Spaltung Angst hätten, falls sie wirklich unvermeidlich wäre, sondern weil es sich um Tausende von Proletariern handelt, die unser eigen Fleisch und Blut sind, die wir nicht „bestrafen“, sondern für unsre Auffassung gewinnen müssen. Die sozialdemokratische Idee darf nicht vor der Mainlinie ihren Bankrott erklären, und wenn wir daran nicht verzagen, die Arbeiter des Zentrums für unsre Grundsätze zu erobern, so dürfen wir um so weniger an der Aufgabe scheitern, die kleinbürgerlich angehauchte Arbeiterschaft des Südens, die sich schon zur Sozialdemokratie zählt, für die grundsätzliche Auffassung des revolutionären Klassenkampfes zu gewinnen.

Und so entsteht vor allem die Frage, ob die Gesamtpartei in dieser Hinsicht auch wirklich ihre Pflichten erfüllt, ob sie alles getan hat, um in den weitesten Parteikreisen das politische Gewissen zu schärfen und den revolutionären Klasseninstinkt zu festigen?

Die erste Verfehlung der badischen Fraktion besteht in der gänzlichen Mißachtung des republikanischen Charakters unsrer Partei. Hat nun die Partei in dieser Beziehung nicht arge Unterlassungssünden auf dem Gewissen? Wäre die republikanische Losung bei jeder wichtigeren Gelegen-

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.