Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 419

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unorganisierter Volksmassen, ihre spontane, sozusagen improvisierte Aktionsfähigkeit, ein so bedeutender, oft ausschlaggebender Faktor in allen bisherigen großen politischen Kämpfen, fast ausgeschaltet ist, da liegt der Partei die unabwendbare Pflicht ob, den Wert dieser so hochentwickelten Organisation und Disziplin auch für große Aktionen, ihre Verwendbarkeit auch für andere Kampfformen als für parlamentarische Wahlen nachzuweisen.“[1]

Das bisherige Schicksal der preußischen Wahlrechtsbewegung scheint beinahe zu beweisen, daß unser Organisationsapparat und unsere Parteidisziplin sich einstweilen noch besser im Bremsen als im Führen großer Massenaktionen bewähren. Wenn man schon im voraus die Straßendemonstrationen nur zaghaft und widerwillig ausführt, wenn man jeder gebotenen Gelegenheit zur Potenzierung der Demonstrationen, wie der 18. März, wie der 1. Mai eine war, peinlich ausweicht, wenn man eigene Siege, wie die Eroberung des Rechtes auf die Straße am 10. April, und ebenso die Niederlagen der Gegner, wie die Zurückziehung der Regierungsvorlage, gänzlich ungenutzt läßt, wenn man schließlich die Demonstrationen überhaupt an den Nagel hängt und die Massen nach Hause schickt, kurz, wenn man alles tut, um die Massenaktion zurückzuhalten, zu lähmen, die Kampfstimmung abzustumpfen, dann kann selbstverständlich auch nicht aus der Masse heraus jene stürmische Bewegung entstehen, die sich in einem Massenstreik Luft machen muß.

Natürlich vermag die hemmende Wirkung einer so gearteten Leitung am ehesten dann den Ausschlag zu geben, wenn die Massenaktion erst in ihren Anfangsstadien ist, wie dies bei uns in Deutschland der Fall, wo sie noch die ersten Schritte tut. Ist die revolutionäre Periode erst in ihrer vollen Entfaltung, gehen die Wogen des Kampfes bereits hoch, dann wird kein Bremsen der Parteiführer viel auszurichten imstande sein, dann schiebt die Masse ihre Führer, die sich dem Sturm der Bewegung widersetzen, einfach auf die Seite. So kann es auch einmal in Deutschland kommen. Aber ich finde es im Interesse der Sozialdemokratie weder notwendig noch wünschenswert, dahin zu steuern. Wenn wir mit dem Massenstreik in Deutschland unbedingt warten wollen, bis die Masse mit „tosender Entrüstung“ über ihre bremsenden Führer hinwegstürmt, so kann dies offenbar nur auf Kosten des Einflusses und des Prestiges der Sozialdemokratie geschehen. Denn dann könnte sich leicht herausstellen, daß der komplizierte Organisationsapparat und die strenge Parteidisziplin, auf die wir mit Recht stolz sind, leider nur für den parlamentarischen und ge-

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[1] S. 295.