Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 420

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werkschaftlichen Alltag ein ausgezeichneter Notbehelf, daß sie aber bei der gegebenen Beschaffenheit unserer leitenden Kreise ein Hindernis für die Massenaktion großen Stils sind, wie sie die kommende Ara der stürmischen Kämpfe erfordert. Und noch ein besonderer schwacher Punkt unserer Organisationsverhältnisse könnte dabei verhängnisvoll wirken. Wären nämlich die Gewerkschaftsführer allein in der jüngsten Wahlrechtskampagne gegen die Losung des Massenstreiks öffentlich aufgetreten, so hätte dies nur zur Klärung der Situation, zur Schärfung der Kritik bei den Massen geführt. Daß sie dies nicht nötig hatten, daß sie vielmehr durch das Medium der Partei und mit Hilfe des Parteiapparats die ganze Autorität der Sozialdemokratie zum Bremsen der Massenaktion in die Waagschale werfen konnten, das hat die Wahlrechtsbewegung zum Stillstand gebracht, Genosse Kautsky hat bloß die theoretische Musik dazu gemacht.

Freilich geht unsere Sache trotz alledem vorwärts. Die Gegner arbeiten für uns so unablässig, daß es kein besonderes Verdienst ist, wenn unser Weizen bei jedem Wetter blüht. Doch ist es ja schließlich nicht die Aufgabe der Klassenpartei des Proletariats, lediglich von den Sünden und Fehlern ihrer Gegner trotz eigener Fehler zu leben, sondern durch eigene Tatkraft den Gang der Dinge zu beschleunigen, nicht das Minimum, sondern das Maximum an Aktion und Klassenkampf in jedem Moment auszulösen.

Und wenn in Zukunft die Massenaktion wieder anheben wird, dann wird die Partei genau vor demselben Problem stehen wie schon vor zwei Jahren und wie im letzten Frühjahr. Nach diesen zwei Versuchen müssen die breiten Kreise unserer Parteigenossen sich von vornherein darüber klar sein, daß eine wirkliche Massenaktion großen Stils sich nur dann entfachen und auf die Dauer erhalten läßt, wenn man sie nicht als eine trockene Exerzierübung nach dem Taktstock der Parteileitung behandelt, sondern als einen großen Klassenkampf, in dem alle bedeutenden wirtschaftlichen Konflikte ausgenutzt, alle Momente, die die Masse erregen, in den Strudel der Bewegung geleitet werden müssen und in dem man nicht einer steigenden Verschärfung der Situation und entscheidenden Kämpfen ausweicht, sondern ihnen mit einer entschlossenen, konsequenten Taktik entgegengeht. Vielleicht wird die jetzige Diskussion dazu ihr Teil beitragen.

Die Neue Zeit (Stuttgart),

28. Jg. 1909/10, Zweiter Band,

I–III: S. 564-578, IV–VI: S. 626-642.

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